Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
zögerte, stammelte. Eine so prompte Reaktion hatte sie nicht erwartet.
    »Entschließ dich, Jess. Ich opfere meine Mittagspause nicht für jeden.«
    Jess nickte. »Morgen mittag«, stimmte sie zu. »Um zwölf, okay?«

9
    S tephanie Banack hatte ihre Praxis in der Michigan Avenue, direkt im Zentrum. »Sie ist offensichtlich sehr erfolgreich«, nuschelte Jess in ihren Mantelkragen, während sie auf einen Aufzug wartete, der sie in die dreizehnte Etage hinaufbringen sollte. Sie hatte Stephanie Banack seit Jahren nicht mehr gesehen, hatte auch nie das geringste Verlangen verspürt, sie zu sehen, hatte die andauernde
Freundschaft ihrer Schwester mit der Frau nie verstanden. Aber es gab vieles an Maureen, das Jess nicht verstand. Besonders in letzter Zeit. Doch das war eine andere Geschichte. Das hatte mit den Gründen ihres Hierseins nichts zu tun.
    Aber warum war sie überhaupt hier?
    Jess sah sich in dem großen Foyer mit den Spiegelwänden und dem schwarz-weißen Marmorboden um, während sie nach einer Antwort suchte. Es gab keinen Grund, sagte sie sich sofort. Es gab nicht einen guten Grund für diesen Besuch bei Stephanie Banack. Sie vergeudete wertvolle Zeit und Energie für etwas, was weder das eine noch das andere erforderte. Sie sah auf ihre Uhr und stellte fest, daß es fünf vor zwölf war. Sie hatte noch Zeit, oben anzurufen und den Termin abzusagen, ohne der Freundin ihrer Schwester ernsthafte Ungelegenheiten zu bereiten. Die Frau hatte gesagt, sie würde auf ihre Mittagspause verzichten, um für Jess eine Stunde Zeit zu haben. Nun würde sie das nicht mehr tun müssen. Sie würde ihr also mit ihrer Absage einen Gefallen tun.
    Jess sah sich gerade nach einem Telefon um, als sich die Türen des Aufzugs öffneten, dem sie am nächsten stand. Die leere Kabine sah sie an, als wollte sie sagen, nun, was wirst du tun? Ein Telefon ist nicht in der Nähe, und ich warte nicht ewig. Entschließ dich, komm endlich zu Potte. Also, was wirst du tun?
    »Ich fahr mit dir rauf«, antwortete Jess, froh, daß niemand im Foyer war, der sie hören konnte. Das ist ja wohl das letzte, dachte sie, jetzt rede ich sogar schon mit Aufzügen. Sie trat in die Kabine, die Türen schlossen sich hinter ihr.
    Innen war der Aufzug auf drei Seiten mit Spiegeln getäfelt, genau wie das Foyer, und Jess entdeckte, daß sie, ganz gleich, wie sie den Kopf drehte, unweigerlich ihrem Spiegelbild ins Auge sah. Hatten sich das die Therapeuten, die hier im Haus ihre Praxis hatten, extra ausgedacht? Wollten sie auf diese Weise ihre widerwilligen Patienten zwingen, sich mit sich selbst zu konfrontieren? »Laß mich bloß
in Ruhe«, sagte Jess laut, entschlossen, sich nicht von ihrem eigenen Spiegelbild einschüchtern zu lassen.
    Die Aufzugtüren öffneten sich im dreizehnten Stock. Jess blieb an die hintere Wand gedrückt stehen. In ihrem Rücken spürte sie das Vibrieren der Kabine. Es schien sie sachte vorwärts zu schubsen. Erst willst du nicht hereinkommen; jetzt willst du nicht aussteigen. Trotzig trat Jess in den Flur hinaus. Sie mußte sich regelrecht auf die Zunge beißen, um dem Aufzug nicht Lebwohl zu sagen. »Du hast soeben die Grenze von der Neurotikerin zur total Bescheuerten überschritten«, sagte sie zu sich, während sie auf dem weichen blaugrauen Teppich zur richtigen Tür am Ende des Korridors ging. STEPHANIE BANACK stand in goldenen Leitern auf dunkler Eiche, gefolgt von einem beeindruckenden Schwanz akademischer Grade.
    Viel zu beeindruckend, dachte Jess, die sich des ungraziösen jungen Mädchens erinnerte, das ihrer Schwester zeitweise nicht von der Seite gewichen war. Sie konnte sie sich nicht als eine Frau vorstellen, die fähig war, so viele Buchstaben hinter ihrem Namen zu versammeln: M. A., Dr. phil., Dr. med. Die Frau leidet eindeutig unter einem Mangel an Selbstbewußtsein, sagte sich Jess. All diese kostspieligen akademischen Grade, wo sie doch wahrscheinlich nur eine Nasenkorrektur gebraucht hätte.
    Jess streckte gerade die Hand nach dem Türknauf aus, als die Tür geöffnet wurde, und eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz und lila Lidschatten heraustrat. Sie lächelte, so ein unverbindliches Lächeln, das in sämtliche Richtungen zugleich strahlte.
    »Sind Sie Jess Koster?« fragte sie.
    Jess trat einen Schritt zurück und überlegte im stillen, ob sie sich zu ihrem Namen bekennen sollte. Dann nickte sie stumm.
    »Ich bin Dr. Banacks Sprechstundenhilfe. Dr. Banack erwartet Sie. Sie können gleich

Weitere Kostenlose Bücher