Schau Dich Nicht Um
wurde breiter, als Jess ihm direkt vor die Augen trat.
»Na so was«, sagte er. »In Fleisch und Blut.«
»Verfolgen Sie mich?« fragte Jess so laut, daß ihre Worte von allen im Wagen gehört werden konnten.
Er lachte. »Ich? Sie verfolgen? Weshalb sollte ich das tun?«
»Genau das sollen Sie mir sagen.«
»Ich brauche Ihnen gar nichts zu sagen«, erwiderte er und blickte über ihren Kopf hinweg zum Fenster hinaus. »Das hat mein Anwalt auch gesagt.«
Der Zug verlangsamte die Fahrt, als er sich der nächsten Haltestelle näherte.
»Was machen Sie in diesem Zug?« fragte Jess scharf.
Keine Antwort.
»Was machen Sie in diesem Zug?« wiederholte sie.
Er kratzte sich an der Nase. »Ich mache eine kleine Fahrt.« Seine Stimme war träge, als wäre der Akt des Sprechens eine beinahe zu große Anstrengung.
»Wohin?« fragte Jess.
Er sagte nichts.
»Wo steigen Sie aus?«
Er lächelte. »Das weiß ich noch nicht.«
»Ich möchte wissen, wohin Sie fahren.«
»Vielleicht fahre ich nach Hause.«
»Ihre Mutter wohnt in der Aberdeen Street. Das ist die andere Richtung.«
»Vielleicht fahr ich gar nicht zu meiner Mutter.«
»Dann verstoßen Sie gegen die Haftverschonungsbestimmungen. Ich kann Sie festnehmen lassen.«
»In meinen Kautionsbedingungen heißt es, daß ich bei meiner
Mutter leben muß, solange ich auf Kaution frei bin. Aber es steht nicht drin, mit welchen Zügen ich fahren darf oder nicht«, versetzte er.
»Was haben Sie mit Connie DeVuono gemacht?« fragte sie in der Hoffnung, ihn mit ihrer Frage zu überraschen.
Rick Ferguson blickte zur Decke hinauf, als überlegte er sich tatsächlich eine Antwort. »Einspruch!« höhnte er dann. »Ich glaube nicht, daß mein Anwalt mit dieser Frage einverstanden wäre.«
Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen. Jess suchte nach einem Halt und fand keinen, sie verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber, Rick Ferguson an die Brust. Er packte sie, umfaßte mit beiden Händen ihre Arme so fest, daß Jess förmlich spüren konnte, wie sich die Blutergüsse bildeten.
»Lassen Sie mich los!« schrie Jess. »Lassen Sie mich augenblicklich los!«
Rick Ferguson hob die Hände in die Luft. »Hey, ich wollte Ihnen doch nur helfen.«
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht.«
»Aber Sie wären beinahe gestürzt«, sagte er, zog seine Lederjacke gerade und zuckte die Achseln. »Und wir möchten doch nicht, daß Ihnen etwas passiert. Nicht jetzt, wo es gerade anfängt, interessant zu werden.«
»Was soll das heißen?«
Er lachte. »Na so was!« rief er, den Blick an ihr vorbei zum Fenster hinaus gerichtet. »Hier muß ich raus.« Er drängte sich zur Tür durch. »Bis demnächst«, sagte er und glitt zur Tür hinaus, kurz bevor diese sich wieder schloß.
Als der Zug abfuhr, sah Jess Rick Ferguson auf dem Bahnsteig stehen und winken.
Sie saß nackt auf dem Bett, ihre Kleider sorgfältig zurechtgelegt neben sich, und war nicht fähig, eine Bewegung zu machen. Sie war
nicht sicher, wie lange sie schon so gesessen hatte, wieviel Zeit verstrichen war, seit sie aus der Dusche gekommen war, wie viele Minuten abgelaufen waren, seit sie gemerkt hatte, daß ihre Beine gefühllos wurden und ihr Atem mühsam und schwer. Das ist doch lächerlich, sagte sie sich. Das geht doch nicht. Alle warten auf dich. Du kommst zu spät. Das kannst du doch nicht machen.
Sie konnte nichts dagegen tun.
Sie konnte sich nicht rühren.
»Los, Jess«, sagte sie laut. »Stell dich nicht an. Setz dich in Bewegung. Du mußt dich anziehen.« Sie blickte zu dem schwarzen Seidenkleid hinunter, das neben ihr lag. »Komm schon! Du hast schon alles zurechtgelegt. Du brauchst es nur noch anzuziehen.«
Sie konnte nicht. Ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen, waren wie gelähmt.
Der Anfall von Panik hatte in Form eines Kribbelns in einer Seite begonnen, als sie aus der Dusche gekommen war. Anfangs hatte sie versucht, es mit ihrem Handtuch wegzurubbeln, aber es hatte sich rasch in Magen und Brust, dann in Hände und Füße ausgebreitet. Sie begann sich benommen zu fühlen, ihre Beine wurden taub, sie mußte sich setzen. Bald bereitete jeder Atemzug ihr Schmerzen.
Das Telefon neben dem Bett begann zu läuten.
Jess starrte es an, unfähig, den Hörer abzunehmen. »Bitte hilf mir«, flüsterte sie. Sie zitterte am ganzen Körper vor Kälte. »Bitte, hilf mir doch jemand.«
Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal... Nach dem zehnten Mal hörte es auf. Jess schloß die Augen, schwankte, fühlte die Angst
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