Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
reingelassen und sich von ihm stinkteure Stiefel andrehen lassen. »Und nicht mal aus Leder«, schimpfte sie vor sich hin und bohrte ihren Finger in einen Riß, der sich wie eine große, klaffende Wunde durch den billigen Kunststoffbezug des Sitzes zog.
    »Bitte?« sagte der Fahrer. »Haben Sie was gesagt?«
    »Nein, nein«, antwortete Jess und fügte für sich hinzu, ich habe nur mal wieder Selbstgespräche gehalten. Das scheine ich dieser Tage erschreckend häufig zu tun.
    Zweihundert Dollar für ein Paar Vinylstiefel. War sie eigentlich völlig verrückt geworden?
    Ja, wahrscheinlich, dachte sie. Das hatte sich ja mittlerweile ziemlich klar gezeigt.
    »Schöner Tag«, bemerkte Jess, um Normalität bemüht.
    »Bitte?«
    »Ich hab gesagt, es tut gut, die Sonne mal wieder zu sehen.«
    Der Fahrer zuckte die Achseln und sagte nichts. Den Rest der Fahrt herrschte Schweigen, nur unterbrochen vom Knacken und Knistern des Funkgeräts im Wagen und den kurzen Anweisungen aus der Zentrale.
    Das Gerichtsmedizinische Institut befand sich in einem unscheinbaren zweistöckigen Gebäude in einer Straße, die nur aus solchen Bauten bestand. Jess bezahlte den Fahrer, stieg aus und ging rasch über den Bürgersteig auf das Gebäude zu. Wie um sich gegen die Kälte drinnen zu wappnen, zog sie ihren Mantel fester um sich.
    Anderson, Michael, fünfundvierzig, an den Folgen eines Verkehrsunfalls plötzlich verstorben, ging es Jess durch den Kopf, die sich der Todesanzeigen in der Morgenzeitung erinnerte, als sie durch das Foyer zum Empfangsschalter ging. Clemmons , Irene, friedlich entschlafen in ihrem hundertzweiten Lebensjahr, unvergessen
von ihren Mitbewohnern im Seniorenheim Tannruh. Lawson, David, dreiunddreißig. Er ist in eine bessere Welt hinübergegangen. Um ihn trauern seine Mutter, sein Vater, seine Schwester und sein Hund. Anstelle von Spenden an eine gemeinnützige Organisation dürfen Sie ruhig Blumen und Kränze schicken.
    Wie kam es, daß manche Menschen kaum die erste Blüte ihrer Jugend überlebten, während andere bis in ihr zweites Jahrhundert am Leben festhielten? Was war daran fair? fragte sie sich, über sich selbst überrascht. Eigentlich hatte sie den Glauben, das Leben müsse fair sein, längst aufgegeben.
    »Ich bin mit Hilary Waugh verabredet«, erklärte sie der gummikauenden jungen Frau hinter dem Schalterfenster.
    Die Frau, deren glattes, braunes Haar aussah, als könnte es eine gründliche Wäsche gebrauchen, schnalzte mit ihrem Kaugummi und griff zum Telefon. »Sie sagt, Sie seien zu früh dran«, erklärte sie Jess ein paar Sekunden später in tadelndem Ton. »Sie bittet Sie, noch ein paar Minuten zu warten. Wenn Sie sich setzen möchten...«
    »Danke.« Jess ging vom Schalterfenster zu einem verblichenen braunen Cordsofa, das an einer hellen Wand stand, aber sie setzte sich nicht. Nie schaffte sie es in diesem Haus, sich irgendwo zu setzen. Sie konnte kaum ruhig stehen. Sie kreuzte ihre Arme vor der Brust und rieb sich die Oberarme in vergeblichem Bemühen, warm zu werden.
    Mateus, Jose, im vierundfünfzigsten Lebensjahr plötzlich von uns gegangen, betrauert von seiner Mutter Alma, seiner Frau Rosa und den beiden Kindern Paolo und Gino , zitierte ihr Gedächtnis. Nielsen, Thomas, Beamter im Ruhestand, erlag in seinem siebenundsiebzigsten Lebensjahr einem Herzinfarkt. Um ihn trauern seine Ehefrau Linda, seine Söhne Peter und Henry, seine Schwiegertöchter Rita und Susan, seine Enkelkinder Lisa, Karen, Jonathan, Stephen und Jeffrey. Kondolenzbesuche bitte in J. Humphreys Bestattungsinstitut .

    Ohne es zu wollen, hatte Jess plötzlich das Bild jenes Teils des Leichenhauses vor Augen, wo in langen Reihen schwerer grauer Metallschubladen unidentifizierte Tote untergebracht waren, die niemand haben wollte. Die einzigen Menschen, die diese verlorenen Seelen je aufsuchten, waren Leute wie sie, Leute, deren berufliches Interesse sie hierher führte.
    Doe, John, schwarze Hautfarbe, des Drogenhandels verdächtig, in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr an einem Kopfscbuß gestorben; Doe, Jane, weiße Hautfarbe, vermutlich Prostituierte, in ihrem achtzehnten Lebensjahr plötzlich verstorben, erdrosselt am Ufer des Chicago River aufgefunden; Doe, John, weiße Hautfarbe , vermutlich Zuhälter, an drei Messerstichen in die Brust gestorben, Alter neunzehn Jahre; Doe, Jane, schwarze Hautfarbe, langjährige Crack-Süchtige, in ihrem achtundzwanzigsten Lebensjahr nach einer Vergewaltigung zu Tode geprügelt. Doe, John

Weitere Kostenlose Bücher