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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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als die Anzahl der Morde, die jedes Jahr in Chicago verübt wurden, war die Tatsache, daß nicht noch mehr geschahen, dachte sie.
     
    »Meine Damen und Herren Geschworenen«, begann Jess und nahm mit jeder der sieben Frauen und jedem der fünf Männer, die auf der Geschworenenbank saßen, kurzen Blickkontakt auf. »Am zweiten Juni dieses Jahres hat Terry Wales, der Angeklagte, seine Frau mit einem Pfeil mit Stahlspitze, den er von einer Armbrust abfeuerte, mitten auf der Kreuzung Grand Avenue und State Street ins Herz geschossen. Niemand hier bestreitet das. Es ist eine Tatsache.
    Die Verteidigung wird versuchen, Sie davon zu überzeugen, daß nichts an diesem Fall einfach ist«, fuhr sie fort, sich Greg Olivers Kommentar zu eigen machend. »Aber Tatsachen bleiben Tatsachen,
meine Damen und Herren, und Tatsache ist, daß Nina Wales, eine hübsche und intelligente Frau von achtunddreißig Jahren, auf grausamste und schrecklichste Weise von ihrem brutalen Ehemann erschossen wurde, nachdem sie kurz zuvor endlich den Mut aufgebracht hatte, sich von ihm zu trennen.«
    Jess trat einen Schritt von der Geschworenenbank zurück, um den Geschworenen den Blick auf den Angeklagten, Terry Wales, freizugeben, einen ziemlich unscheinbaren Mann von vierzig Jahren, der etwas von einer Maus hatte. Er war schlank und drahtig, sein Teint blaß, sein schütteres Haar ein fades Blond. Sein Anwalt, Hal Bristol, ein dunkelhaariger, imposanter Mann von vielleicht sechzig Jahren, war es, der alle Blicke auf sich zog. Terry Wales, der neben ihm saß, sah klein und armselig aus, wie überwältigt von den Ereignissen, verwirrt, als könnte er nicht glauben, was er hörte, nicht glauben, daß er sich in diesem Dilemma befand.
    Vielleicht kann er das wirklich nicht, dachte Jess, den Blick auf die Bibel gerichtet, die Terry Wales nervös in den Händen drehte. Kriminelle glaubten wie Teenager, sie seien unbesiegbar. Ganz gleich, wie schwer ihr Verbrechen, ganz gleich, wie offenkundig ihre Motive, ganz gleich, wie klar die Spuren, die sie hinterließen. Sie glaubten niemals ernsthaft, daß sie gefaßt würden. Immer glaubten sie, daß sie ungestraft davonkommen würden. Und manchmal war es ja auch so. Manchmal reichten der Beistand eines guten Anwalts und eine Bibel aus. Würden die Geschworenen auf billige Effekthascherei dieser Art hereinfallen? fragte sich Jess zynisch.
    »Lassen Sie sich von dem sorgfältig einstudierten Bild frommer Unschuld und Reue, das Sie vor sich sehen, nicht täuschen, meine Damen und Herren«, rief Jess, vorübergehend von ihrer ausgearbeiteten Rede abweichend. Sie sah, wie Hal Bristol den Kopf schüttelte. »Lassen Sie sich nicht weismachen, daß ein Mann, nur weil er eine Bibel in den Händen hält, auch weiß, was sie sagt. Oder sich auch nur für ihren Inhalt interessiert.

    Wo war denn diese Bibel, als Terry Wales in elf Ehejahren seine Frau regelmäßig schlug? Wo war sie, als er ihr drohte, sie zu töten, wenn sie versuchen sollte, ihn zu verlassen? Wo war sie, als er am Tag vor dem Mord eine Armbrust kaufte? Wo war diese Bibel, die Terry Wales jetzt in seiner Hand hält, als er diese Armbrust nahm und mit ihr seine Frau niederschoß, als sie auf dem Weg zu ihrem Rechtsanwalt aus einem Taxi stieg? Diese Bibel war nirgends zu sehen, meine Damen und Herren. Terry Wales hatte damals mit der Bibel nichts am Hut. Erst jetzt braucht er sie. Und nur, weil er weiß, daß Sie ihn beobachten.«
    Jess kehrte zu ihrem Konzept zurück. »Die Verteidigung wird sich bemühen, Ihnen klarzumachen, daß der kaltblütige, vorsätzliche Mord an Nina Wales in Wirklichkeit ein Verbrechen aus Leidenschaft war. Gewiß, wird man zugestehen, Terry Wales hat die Armbrust und den Pfeil gekauft; gewiß, er hat seine Frau erschossen. Aber verstehen Sie denn nicht? Er hatte niemals die Absicht, ihr etwas anzutun. Er wollte ihr nur einen Schrecken einjagen. Er habe sie geliebt, wird man Ihnen vorhalten. Er habe sie geliebt, und sie habe ihn verlassen. Er habe versucht, vernünftig mit ihr zu sprechen; er habe gebeten und gebettelt, sie angefleht. Er habe sogar gedroht. Er sei ein Mann gewesen, der gelitten habe, ein Mann in Aufruhr und Verwirrung. Er sei außer sich gewesen vor Schmerz bei dem Gedanken, seine Frau zu verlieren.
    Man wird Sie ferner davon zu überzeugen versuchen, daß Nina Wales an ihrem eigenen Tod nicht ganz unschuldig sei. Man wird geltend machen, daß sie ihren Mann betrogen habe, obwohl wir dafür nur das Wort des Mannes

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