Schau Dich Nicht Um
wiederholte Jess und bemühte sich, ihr plötzliches Unbehagen zu verbergen. »Warum sitzt man wohl gern am Gang? Vermutlich weil man da mehr Platz hat.«
»Die Nadel ist soeben wieder über die ganze Seite gehüpft«, sagte Adam.
»Was?«
»Der Lügendetektor. Sie sind durchgefallen.«
»Weshalb sollte ich lügen, wenn Sie mich fragen, warum ich im Kino gern am Gang sitze?«
»Das möcht ich auch gern wissen.«
»Das ist doch albern.«
»Also wandern nun auch die Plätze am Gang auf die Liste der verbotenen Themen.«
»Es gibt doch gar nichts über sie zu sagen.«
»Dann verraten Sie mir doch, warum Sie unbedingt am Gang sitzen wollten.«
»Ich wollte ja gar nicht unbedingt.«
Er zog eine Schnute wie ein kleiner Junge. »Wollten Sie doch.«
»Wollte ich nicht.«
Sie lachten beide, aber ganz löste sich die Spannung nicht.
»Ich mag es nicht besonders, wenn man mich eine Lügnerin nennt«, sagte Jess.
»Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen.«
»Für eine Anwältin ist ihre Glaubwürdigkeit schließlich das A und O.«
»Sie sind jetzt nicht bei Gericht, Jess«, sagte Adam. »Und Sie sind nicht im Verhör. Es tut mir leid, wenn ich irgendwie zu weit gegangen bin.«
»Wenn ich es Ihnen sage«, sagte Jess plötzlich, sich und ihn gleichermaßen überraschend, »werden Sie mich für total bescheuert halten.«
»Ich halte Sie sowieso schon für total bescheuert«, sagte Adam. »Ich bitte Sie, Jess, Grau als Lieblingsfarbe...«
»Ich hatte Angst, daß mir schlecht wird«, sagte Jess.
»Schlecht? Sie meinen, Sie hatten Angst, Sie müßten sich übergeben?«
»Ich weiß, das klingt albern.«
»War Ihnen denn nicht gut?«
»Doch. Es ging mir prima.«
»Aber Sie hatten Angst, Sie würden sich übergeben müssen, wenn Sie nicht direkt am Gang sitzen?«
»Fragen Sie mich nicht, warum.«
»Haben Sie sich denn jemals übergeben, wenn Sie nicht am Gang saßen?« fragte er völlig logisch.
»Nein«, bekannte sie.
»Warum glauben Sie dann, Sie könnten jetzt damit anfangen?«
Er wartete. Sie sagte nichts.
»Mach ich Sie etwa so nervös?«
»Sie machen mich überhaupt nicht nervös«, log sie, schränkte dann aber sofort ein. »Nein, das stimmt nicht ganz, ein bißchen nervös machen Sie mich schon. Aber Sie hatten nichts damit zu tun, daß ich Angst hatte, mir könnte da drinnen schlecht werden.«
»Ich versteh das nicht.«
»Ich auch nicht. Können wir nicht über etwas anderes reden?« Sie senkte schuldbewußt den Kopf, wieder ein Thema auf der schwarzen Liste. »Ich meine, wir müssen uns ja nicht gerade beim Essen darüber unterhalten.«
»Warten Sie mal, ich möchte das gern richtig verstehen«, sagte er, ohne auf ihre Bitte einzugehen. »Sie setzen sich gern an den Rand, weil Sie Angst haben, daß Sie sich, wenn Sie, sagen wir, in der Mitte der Reihe sitzen, vielleicht übergeben müssen, obwohl Sie sich noch nie im Kino übergeben haben. Ist das richtig so?«
»Ja.«
»Wie lange haben Sie diese Phobie schon?«
»Wer sagt, daß ich eine Phobie habe?«
»Wie würden Sie das denn nennen?«
»Definieren Sie Phobie«, forderte sie.
»Eine irrationale Furcht«, sagte er. »Eine Furcht, die nicht in der Realität begründet ist.«
Jess hörte ihm aufmerksam zu. »Okay, dann habe ich eine Phobie.«
»Was haben Sie sonst noch für Phobien - Klaustro-, Agora-, Arachno-?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine.«
»Andere Leute haben Höhenangst oder fürchten sich vor Schlangen; Sie haben Angst, Sie könnten sich im Kino übergeben, wenn Sie nicht direkt am Gang sitzen.«
»Ich weiß, es ist lächerlich.«
»Das ist gar nicht lächerlich.«
»Nein?«
»Es ist nur nicht die ganze Geschichte.«
»Sie glauben immer noch, ich verschweige Ihnen etwas?« fragte Jess. Sie hörte das Zittern in ihrer Stimme.
»Wovor haben Sie wirklich Angst, Jess?«
Jess schob ihren Teller weg. Ihr war plötzlich der Appetit vergangen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongelaufen. Sie mußte sich zwingen, auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben.
»Ich habe manchmal solche Angstattacken«, sagte sie nach einer langen Pause leise. »Ich habe sie schon vor Jahren eine Zeitlang gehabt. Sehr häufig. Aber mit der Zeit sind sie weggeblieben. Vor kurzem haben sie wieder angefangen.«
»Aus einem bestimmten Grund?«
»Da könnte alles mögliche dahinterstecken«, antwortete Jess und fragte sich, wohin die Nadel des unsichtbaren Lügendetektors, an den sie angeschlossen war, diesmal springen würde. »Ich
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