Schau Dich Nicht Um
bekomme plötzlich wahnsinniges Herzklopfen. Atemnot. Ich kann mich nicht rühren. Mir wird schlecht. Ich versuche, mich dagegen zu wehren...«
»Warum?«
»Warum? Wie meinen Sie das?«
»Warum wehren Sie sich? Hilft das denn?«
Jess mußte zugeben, daß es nicht half. »Aber was soll ich denn sonst tun?«
»Warum gehen Sie nicht einfach mit diesen Anfällen mit?«
»Mit ihnen mitgehen? Das verstehe ich nicht.«
»Ganz einfach. Anstatt so viel Kraft daran zu verschwenden, sich gegen die Angst zu wehren, geben Sie ihr doch einfach nach. Schwimmen Sie mit dem Strom, wie man sagt. Nehmen wir an, Sie sitzen im Kino«, fuhr er fort, als er ihre Verwirrung sah, »und Sie merken, daß einer dieser Anfälle kommt. Anstatt den Atem anzuhalten oder bis zehn zu zählen oder von Ihrem Platz aufzuspringen, oder was Sie sonst tun, gehen Sie einfach mit der Angst mit, geben dem Gefühl nach. Was ist denn das Schlimmste, was passieren kann?«
»Daß ich mich übergebe.«
»Gut, dann übergeben Sie sich eben.«
»Was?«
»Sie übergeben sich. Na und?«
»Ich hasse es, wenn ich mich übergeben muß.«
»Aber das ist es nicht, wovor Sie Angst haben.«
»Nein?«
»Nein.«
Jess sah sich ungeduldig um. »Sie haben recht. Ich kann Ihnen sagen, wovor ich Angst habe - daß ich heute abend nicht mehr zum Arbeiten komme, wenn ich nicht bald nach Hause geh. Ich habe Angst, daß ich nicht genug Schlaf bekomme, wenn ich zu lange ausbleibe, und daß ich dann die Erkältung kriege, die mir schon im Nacken sitzt, und morgen bei Gericht total versage. Ich habe Angst, daß ich diesen Prozeß verlieren werde und ein kaltblütiger Mörder mit einer Strafe von weniger als fünf Jahren Gefängnis davonkommt. Ich glaube, ich muß jetzt wirklich gehen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, sah sie auf ihre Uhr und erhob sich halb von ihrem Platz. Die Serviette rutschte ihr von den Knien und fiel zu Boden.
»Ich glaube, Sie haben Angst vor dem Tod«, sagte Adam.
Jess erstarrte. »Wie?«
»Ich glaube, Sie haben Angst vor dem Tod«, wiederholte er, während
sie sich langsam wieder auf ihren Stuhl sinken ließ. »Das ist die Angst, die letztlich hinter den meisten Phobien steckt. Die Angst vor dem Tod.« Er machte eine kleine Pause. »Und in Ihrem Fall ist diese Angst wahrscheinlich gerechtfertigt.«
»Wie meinen Sie das?« Wie oft hatte sie an diesem Abend diese Frage schon gestellt?
»Na ja, ich kann mir vorstellen, daß es unter den Leuten, die Sie hinter Schloß und Riegel gebracht haben, genug gibt, die Ihnen drohen. Sie bekommen wahrscheinlich Drohbriefe, obszöne Anrufe, das übliche eben. Sie haben jeden Tag mit dem Tod zu tun. Mit Brutalität und Mord und der Unmenschlichkeit der Menschen.«
Es hätte Jess interessiert, woher er so viel über »das übliche« wußte.
»Da ist es nur natürlich, daß Sie Angst haben.«
Jess bückte sich, um ihre Serviette aufzuheben, und warf sie achtlos über ihren Teller. Wie ein Leintuch über eine Leiche, dachte sie, während sie zusah, wie die braune Sauce den weißen Stoff durchtränkte.
»Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht ist es das, was dahintersteckt.«
Adam lächelte. »Ich mach Sie also nervös, hm?«
»Ja, ein bißchen«, sagte sie. »Oder nein, eigentlich ganz schön.«
»Warum?«
»Weil ich nicht weiß, was Sie denken«, antwortete sie aufrichtig.
Sein Lächeln wurde scheu, zurückhaltend. »Ist es denn nicht interessanter so?«
Jess antwortete nichts. »Ich muß jetzt wirklich gehen«, sagte sie schließlich. »Ich muß mich noch auf morgen vorbereiten. Ich hätte heute abend wahrscheinlich überhaupt nicht ausgehen sollen.« Warum plapperte sie so?
»Ich bringe Sie nach Hause«, sagte er. Aber Jess hörte nur: »Ich glaube, Sie haben Angst vor dem Tod.«
15
A m folgenden Samstag meldete sich Jess bei einem Selbstverteidigungskurs an.
Es war eine seltsame Woche gewesen. Am Dienstag hatte die Anklage ihre Beweisführung gegen Terry Wales abgeschlossen. Eine Reihe von Zeugen - Polizeibeamte, medizinische Gutachter, Psychologen, Augenzeugen, Freunde und Verwandte der Toten - hatte ausgesagt. Aufgrund ihrer Aussagen war der eindeutige Beweis erbracht, daß Terry Wales seine Frau getötet hatte. Die einzige Frage, die blieb - die quälende Frage, die von Anfang an bestanden hatte -, war die, ob es sich um vorsätzlichen Mord oder um Totschlag handelte. Würde es Terry Wales gelingen, die Geschworenen davon zu überzeugen, daß alles nur ein tragisches Mißgeschick
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