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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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Mantel. Ziehen Sie dann bitte das hier an und gehen Sie bitte hinein«, sagte die junge Asiatin hinter der Empfangstheke.
    Jess tauschte ihren langen Wintermantel gegen einen kurzen dunkelblauen Baumwollkittel mit passender Schärpe. Sie hatte ein loses Sweatshirt und eine Jogginghose an, wie man ihr am Telefon empfohlen
hatte. Beide waren grau, wie ihr jetzt auffiel. Meine Lieblingsfarbe, dachte sie lächelnd.
    »Sie sind früh dran«, sagte die junge Frau kichernd, und ihr hochgebundener schwarzer Pferdeschwanz schwang im Rhythmus mit den zarten Bewegungen ihrer Schultern. »Sonst ist noch niemand hier.«
    Jess lächelte und verneigte sich leicht. Sie hatte keine Ahnung, was das Protokoll verlangte. Die junge Frau wies sie mit einer Geste zu einem Vorhang zu ihrer Rechten, und Jess ging mit einer weiteren Verneigung hindurch.
    Der Raum, der sich dahinter befand, war doppelt so lang wie er breit war und leer bis auf eine Menge dunkelgrüner Matten, die in einer Ecke auf dem Holzfußboden gestapelt waren. Die eine Wand des Raums war mit Spiegeln getäfelt, die ihm eine Tiefe verliehen, die er nicht hatte. Jess betrachtete ihr Bild und fand sich lächerlich, eine kulturelle Zwittergestalt in ihrem amerikanischen Jogging-Outfit und dem orientalischen Kittel. Mit einem Achselzucken nahm sie ihr Haar zurück und schnürte es mit einem breiten Gummiband zusammen.
    Was tat sie hier überhaupt? Was erhoffte sie sich von diesem Kurs? Glaubte sie im Ernst, es gäbe einen wirksamen Schutz vor - ja, wovor überhaupt? Vor den Elementen? Vor dem Unvermeidlichen?
    Sie hörte Schritte hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie eine Frau, die stark hinkte, hinter dem grünen geblümten Vorhang hervortreten.
    »Hallo«, sagte die Frau, die etwa im gleichen Alter war wie Jess. »Ich bin Vasiliki. Nennen Sie mich Vas, das ist einfacher.«
    »Jess Koster«, sagte Jess und gab der Frau die Hand. »Vasiliki ist ein sehr interessanter Name.«
    »Es ist ein griechischer Name«, erklärte die Frau, während sie sich in der Spiegelwand musterte. Sie war groß und grobknochig, mit
einem olivbraunen, kantigen Gesicht, das von sehr dunklem Haar umrahmt war. Eine durchaus respekteinflößende Person, wäre nicht das Hinken gewesen.
    »Ich bin vor einem Jahr von einer Bande Jugendlicher überfallen worden. Dreizehnjährige Jungen! Ist das zu glauben?« Ihr Ton sagte, daß sie es noch immer nicht fassen konnte. »Sie hatten es auf meine Handtasche abgesehen. ›Nehmt sie ruhig‹, hab ich gesagt. ›Es ist sowieso nichts drin.‹ Als sie gesehen haben, daß es stimmte und ich nur zehn Dollar bei mir hatte, weil ich nie viel Bargeld mit mir herumtrage, haben sie angefangen, auf mich einzuschlagen, haben mich auf den Boden gestoßen und mich so brutal getreten, daß sie mir die Kniescheibe gebrochen haben. Ich kann froh sein, daß ich überhaupt noch gehen kann. Während ich noch in Therapie war, hab ich mir vorgenommen, daß ich Selbstverteidigung lerne, sobald ich wieder halbwegs gehen kann. Wenn mich das nächste Mal einer angreift, bin ich gewappnet.« Sie lachte bitter. »Obwohl das ein bißchen so ist, als wenn man den Stall zumacht, nachdem das Pferd weggelaufen ist.«
    Jess schüttelte den Kopf. Die Jugendkriminalität hatte in Chicago epidemische Ausmaße erreicht. Man war derzeit dabei, ein ganzes neues Gebäude zu errichten, um mit diesen jugendlichen Straftätern fertig zu werden. Als könnte ein Gebäude da helfen.
    »Und was hat Sie veranlaßt, hierherzukommen?« fragte Vas.
    Die Furcht vor dem Unbekannten, die Furcht vor dem Bekannten, antwortete Jess im stillen. »Das weiß ich selbst nicht so genau«, sagte sie laut. »Ich habe mir einfach gedacht, es wäre wahrscheinlich ganz gut, wenn ich lerne, mich selbst zu verteidigen.«
    »Sehr gescheit. Ich sag Ihnen, heutzutage hat man’s als Frau wirklich nicht leicht.«
    Jess nickte. Sie wünschte, es gäbe eine Sitzgelegenheit.
    Wieder teilte sich der Vorhang, und zwei schwarze Frauen traten in den Raum. Mißtrauisch sahen sie sich um.

    »Ich bin Vasiliki. Nennen Sie mich einfach Vas«, sagte Vas und nickte ihnen zu. »Und das ist Jess.«
    »Maryellen«, sagte die ältere der beiden Frauen, die mit der helleren Haut. »Das ist meine Tochter Ayisha.«
    Jess schätzte Ayisha auf ungefähr siebzehn Jahre, ihre Mutter auf etwa vierzig. Beide Frauen waren sehr hübsch. Unter dem rechten Auge der älteren Frau allerdings war noch ein allmählich verblassender großer blauer Fleck zu

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