Schau mir ins Herz
und die einzigen Geräusche waren das friedliche Plätschern der Wellen und das gedämpfte Klappern von Töpfen und Pfannen, das aus dem Restaurant zu ihnen herausdrang.
Der Eigentümer schien Nicolas gut zu kennen, denn er begrüßte sie wie zwei alte Freunde.
„Victor hat bei seinem Vater kochen gelernt. Und er hat noch nie in seinem Leben ein Kochbuch benutzt“, stellte Nicolas ihn Carol vor.
Der adrette kleine Mann mit dem spitzen Kinn und dem glänzenden schwarzen Haar lachte und deutete auf seine Stirn. „Das da ist mein Kochbuch, barone. Jedes Gericht ist eine Inspiration. Wie Poesie. Heute Abend serviere ich Ihnen fritturi von frischem Fisch und außerdem Kalbfleisch mit einem Pesto aus Oliven und Kräutern und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Und während ich koche, können Sie den Wein probieren.“ Er stellte ihnen eine Karaffe Rotwein und zwei Gläser auf den Tisch und eilte in die Küche.
„Es stimmt“, sagte Nicolas und schenkte ihnen Wein ein. „Die meisten Küchenchefs produzieren kulinarische Prosa. Gegen sie ist Victor ein begnadeter Dichter.“
Carol hätte nicht sagen können, ob es das wahrhaft köstliche Essen war oder der samtige einheimische Rotwein oder der Charme ihres Gastgebers – dieser gefährliche Charme, dessen er sich sogar rühmte und dem sie unbedingt widerstehen wollte –, aber als sie ihren Kaffee tranken, war sie dem Zauber des Abends vollkommen erlegen.
Nicolas und sie hatten sich über gewöhnliche, alltägliche Dinge unterhalten. Über ihr Design-Atelier, ihre beruflichen Ambitionen. Über Nicolas’ Kindheit auf Gozo und seine Bewässerungsvorhaben. Doch der geheimnisvolle Zauber, von dem alles um sie her durchdrungen schien, wirkte auch zwischen ihnen beiden, und beinahe hatte Carol das Gefühl, als befänden sie und Nicolas sich in einer anderen Welt, eingewoben in einer Sphäre purer Magie.
Sie brachen auf, und Nicolas nahm sie mit auf eine Mondscheinfahrt über die Insel. Zu keiner anderen Zeit hätte der massige schwarze Umriss des Fungus Rock dramatischer, die Inland Sea romantischer wirken können als in dieser mondhellen Nacht. Das außergewöhnliche Netzmuster der Salzpfannen in den Felsen bei Xwenia glitzerte in einer Intensität, die es bei Tag niemals besaß. Die Zitadelle von Rabat mit ihren wuchtigen, schmucklosen Mauern warf ihren majestätischen Schatten auf sie, und alles – die quadratischen Wehrtürme auf den Hügeln, die uralten Tempelreste von Ggantija, die spinnenwebartige Silhouette der Windmühle bei Qala – atmete einen allgegenwärtigen, mächtigen Zauber.
Irgendwann brachte Nicolas das Auto zum Stehen, und sie stiegen aus. Er nahm ihre Hand und steuerte auf einen schmalen Weg zu, der hinunter zum Meer führte. Es war der gleiche, den sie schon einmal hinaufgewandert war, wie Carol bald feststellte. An jenem heißen Nachmittag, der hundert Jahre zurückzuliegen, zu einem anderen Leben zu gehören schien. Gestern …
„Das ist doch …“, begann sie.
„Der Weg zur Kalypso-Grotte, ja“, bestätigte Nicolas. „Der Höhleneingang wurde von einer Steinlawine verschüttet. Man kann nicht mehr hinein.“
Sie kamen zu der halb fertigen Villa. Nicolas führte sie durch den türlosen Eingang, unter den Säulen eines Innenhofes entlang, auf die von Statuen umstandene Terrasse, von der aus man die Bucht überblickte.
„Wem gehört dieses Haus?“, wollte Carol wissen. „Wird irgendjemand darin wohnen?“
„Der Bau wurde vor sieben Jahren begonnen …“ Nicolas zögerte kurz und fuhr dann fort: „Es sollte ein Sommerhaus werden.“
„Warum wurde es nicht fertiggestellt?“
„Das wird es noch.“ Er schien die Bemerkung nicht weiter kommentieren zu wollen. „Gefällt es Ihnen?“
Carol sah hinunter auf die weite Biegung des Strandes, der im Mondschein beinahe weiß wirkte, und die fast schwarze See dahinter, auf deren gekräuselter Oberfläche sich das Licht silbern brach. Die warme Nachtluft war erfüllt vom Duft nach Thymian und Fenchel.
„Es ist …“, sie hielt inne und suchte nach Worten, die die besondere Atmosphäre dieses Ortes einfingen, „… so überirdisch schön hier, dass man sich wie gebannt fühlt und nie wieder fort möchte.“
„Gebannt?“ Nicolas’ leises Lachen fühlte sich an wie eine Liebkosung. „Kalypso bannte Odysseus mit ihrem Zauber auf diese Insel. Sieben Jahre, wie die Sage behauptet.“ Der Blick seiner fesselnden dunklen Augen war unverwandt auf sie gerichtet.
„Odysseus war zu
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