Schau mir ins Herz
sie mitgenommen. Erst da erfuhr Nicolas, was geschehen war.“
„Das muss schlimm für ihn gewesen sein.“ Zum ersten Mal sah Carol Nicolas in seiner ganzen Verletzlichkeit.
„Sein Herz war gebrochen“, fuhr Ta Dentella fort. „Er veränderte sich völlig. Vorher war er ein offener, fröhlicher Mensch, doch danach … Er lächelte nicht mehr.“ Die alte Frau seufzte. „Anderen gegenüber verhielt er sich immer gütig, aber er selbst … es schien, als kümmere es ihn nicht mehr, was mit ihm geschah.“
„Ich bin froh, dass Sie es mir erzählt haben“, sagte Carol, und Ta Dentella lächelte ihrem Spiegelbild zu.
„Es ist gut, dass er Sie gefunden hat. Sie können ihn glücklich machen.“
„Ich werde es versuchen.“ Carol drehte sich um und umarmte die alte Frau fest.
Von der Fahrt zur Kapelle und der Trauungszeremonie blieb Carol nur eine Abfolge isolierter Bilder im Gedächtnis – Eindrücke, die ihr später wie Schnappschüsse in einem Fotoalbum vorkamen.
Ihr Bruder, der erst im letzten Moment eintraf – fremd und förmlich in seinem steifen Cutaway – und sich, ungewohnt zurückhaltend, über die Hitze und die Hektik beschwerte, darüber, dass er die Konferenz hatte unterbrechen müssen, und über Carols Unbedachtheit.
„Hättest dir ruhig ein bisschen mehr Zeit lassen können“, grummelte er. „Nun ja, ist natürlich eure Angelegenheit, deine und Nicks. Jedenfalls scheint er ein Mann der schnellen Entschlüsse. Und ein prima Organisator ist er übrigens auch, hat den Flug und alles für mich arrangiert.“
Die Gesichter der Menschen, die den Weg vom Wehrturm zur Kapelle säumten – einige davon erkannte sie. Der Friseur war da, der Schuhmacher mit seiner ganzen Familie und die Frau, die ihr Hochzeitskleid genäht hatte. Alle waren im Sonntagsstaat, denn sie würden später zur Feier in den palazzo kommen.
Die Kapelle, deren einzelnes Glöckchen bimmelte – ein winziges Gebäude, eine Miniaturkirche, die nur aus Säulen und Kuppel zu bestehen schien. Ein Korb voller Blumen fiel Carol auf, der am Eingang stand, und ein Fotograf, der sich auf ein Knie niedergelassen hatte und mit seiner Kamera auf sie zielte wie mit einem Gewehr.
Dann das dämmrige Licht in der Kapelle, die sie an Johns Seite betrat. Das Rascheln von Kleidern, als die Leute sich zu ihr umwandten, während sie noch zögernd auf der Schwelle verharrte. Der kurze Gang zum Altar, wo Nicolas sie erwartete, reglos wie eine gemeißelte Statue.
Die Worte des Priesters, als er ihre Hände ineinanderlegte: „Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden“ – jene Worte, die sie schon einmal auf Lateinisch gehört hatte. Und dann Nicolas’ Blick, dessen Eindringlichkeit ihr den Atem nahm. Den triumphalen Besitzerstolz, den sie für einen winzigen, unbewachten Moment in seinen leuchtenden Augen erkannte. Du gehörst mir, schienen sie zu sagen, und ich will dich lieben und ehren.
Ein traumartiger Eindruck folgte dem andern. Der Duft des teuren französischen Parfüms, der ihr in die Nase stieg, als Nicolas’ Mutter ihre Wange küsste und sie „meine liebe Tochter“ nannte. Tante Lucias bizarrer Hut, der für eine Außerirdische hätte entworfen sein können mit seinen wippenden, fühlerartigen metallischen Gebilden, die zu ihrem silberfarbenen Kleid passten. Die wenigen Schritte durch den Mittelgang, an Nicolas’ Seite diesmal, das Klicken der Kameras und das gleißende Sonnenlicht, als sie ins Freie traten.
Dann die kurze Strecke zurück zum palazzo, die sie zu Fuß zurücklegten, während die Kinder Blumen streuten. Sie erinnerte sich, wie sie diesen Weg barfuß entlanggelaufen war, um Nicolas zu entkommen – Nicolas, der nun ihr wahrhaft angetrauter Ehemann war.
Eine Welle glücklicher Erregung erfasste sie, flutete durch sie hindurch, und Carol tauchte wieder ein in das Meer von Eindrücken und Geräuschen, das sie umgab. So viele Menschen waren gekommen, die die Auffahrt säumten, sich im Innenhof und um die langen Holztische im Garten drängten. Jemand drückte ihr ein Glas Champagner in die Hand, Musik erklang, die Luft war erfüllt von heiterem Stimmengewirr und perlendem Gelächter. An ihrem Ellbogen spürte sie Nicolas’ Hand, mit der er sie sanft und sicher durch die Menge lächelnder Gesichter geleitete. Sie blieben stehen, schüttelten Hände, nahmen Glückwünsche entgegen, bedankten sich, plauderten, lächelten, schlenderten weiter.
Carol war die strahlende Braut, die den schönsten Tag
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