Schau mir ins Herz
den hell erleuchteten palazzo hinter sich gelassen, und die Musik verklang in der Ferne.
„Wo fahren wir hin? Doch nicht zum Wehrturm?“ Carol fing die flatternden Enden ihres Schleiers ein und hielt sie fest.
„Zurück in den Kerker?“ Nicolas lachte. „Aber nein, mein armes eingesperrtes Vögelchen, dazu besteht keine Notwendigkeit mehr. Absolut nicht. Und wo sonst gehörte Kalypso auf ihrer eigenen Insel hin, wenn nicht in die Villa in der Nähe ihrer Grotte?“
„Aber das Haus ist doch noch gar nicht fertig.“
„Inzwischen schon. Bis heute war es unbewohnt, wir werden die Ersten sein, die dort übernachten.“ Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. „Ich habe vor, es zukünftig in der Urlaubssaison für eine entsprechend hohe Summe zu vermieten. Mit der Zeit wird wahrscheinlich der Tourismus mit seinen sämtlichen Schattenseiten in der Villa Einzug halten, aber heute Nacht gehört sie uns – uns ganz allein.“
Das Auto hielt an, und sie stiegen aus. Die Nacht war erfüllt vom Zirpen Tausender Zikaden.
Carol kam es vor, als habe jemand die Zeit zurückgedreht. Wie damals stand der Vollmond am Himmel und verlieh dem dunklen Meer in der Bucht von Ramla einen silbrigen Schimmer. Wie damals vernahm sie das entfernte Rauschen der Wellen und roch den Duft von Thymian und Fenchel, der von den Hügeln herüberwehte. Wie damals war Nicolas ihr ganz nahe, höchstens eine Handbreit entfernt.
Das letzte Mal, als sie an diesem Ort gestanden hatten, so dicht beieinander und ohne sich zu berühren, hatte Carol sich beinahe schmerzhaft danach gesehnt, dass Nicolas sie an sich zog. So war es auch jetzt. Sie dachte nicht mehr an die Vergangenheit oder an die Zukunft, spürte nur noch das verzehrende Verlangen nach seiner Umarmung.
Er machte eine Bewegung auf sie zu, hielt dann jedoch inne. „Nein“, sagte er leise, wie zu sich selbst. „Nicht hier. Bräuche sind dazu da, dass man sie einhält, und eine Braut muss über die Schwelle getragen werden.“
Ehe Carol wusste, wie ihr geschah, hatte er sie auf die Arme gehoben und trug sie zum Eingang der Villa, unter den Säulen des Innenhofs hindurch und die breite Treppe aus fein geädertem Marmor hinauf in ein Schlafzimmer, durch dessen offene Fenster der Mond hereinschien.
Er stellte sie sanft auf die Füße und sah sie schweigend an.
„Kalypso“, murmelte er schließlich und streckte die Hand nach ihr aus, um ihre Wange durch den Schleier hindurch zu streicheln. „Meine Kalypso.“
Langsam, eine nach der andern, begann er, die Nadeln zu lösen, mit denen der Schleier festgesteckt war. Sie machten ein kleines, metallisches Geräusch, als sie auf den Marmor fielen. Zuletzt sank auch der Schleier zu Boden.
Von ihnen beiden vergessen, lag er noch lange danach im Mondlicht.
8. KAPITEL
Als Carol am nächsten Morgen erwachte, wurde im Haus schon emsig gearbeitet. Jemand fegte die Terrasse unter ihrem Fenster, aus der Küche drang das gedämpfte Klirren von Porzellan und das Klappern von Besteck und Töpfen an ihr Ohr, und sie fragte sich, wann die Angestellten zurückgekommen waren. Während sie noch einen Moment mit geschlossenen Augen dalag, erinnerte sie sich an die Leidenschaft und die Wonnen der vergangenen Nacht und war sich ihres Körpers in einer Weise bewusst wie nie zuvor in ihrem Leben.
Etwas in ihr sträubte sich, ganz wach zu werden. Was konnte sie nach einer solchen Nacht sagen? Wie sollte sie Nicolas ansehen? Wie würden sie einander begegnen, jetzt, im nüchternen Licht des Tages?
Nicolas schien noch zu schlafen. Carol streckte den Arm aus und öffnete die Augen. Das Bett neben ihr war leer. Nur eine Vertiefung im Kissen und ein zerwühltes Bettlaken verrieten, dass er dort gelegen hatte.
Carol lächelte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Nicolas etwas ausmachte, wenn sie ihn unrasiert oder mit zerzausten Haaren zu Gesicht bekam, aber er hatte sich wahrscheinlich entschlossen, schwimmen zu gehen oder ein paar Runden zu laufen. Wie wenig ich von ihm weiß, dachte sie. Und wie viel es über ihn zu lernen gibt .
Eine tiefe, nie gekannte Zufriedenheit erfüllte sie, und mit Staunen und Freude erkannte Carol, woher sie rührte: Der Mann, in den sie sich an jenem zauberhaften Karnevalstag verliebt hatte, erwiderte ihre Gefühle.
Dessen war sie sich sicher. Kein Mann konnte den Körper einer Frau mit so viel zärtlicher Leidenschaft erobern, mit so viel Sehnsucht, so viel Triumph, so viel Sanftheit, wenn er sie nicht wirklich liebte.
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