Schau mir ins Herz
Nicolas’ Zynismus vollends begriff.
Ihr gemeinsamer Tanz gestern Abend, seine Worte und Gesten, der Klang seiner Stimme, die Nähe zwischen ihnen, seine Berührungen, die Art, wie er sie angesehen hatte – all das, alles war nur gezielter Einsatz von Charme gewesen.
Sicher, gewürzt von echter Begierde. Das körperliche Verlangen hätte er nicht vortäuschen können. Aber die Zärtlichkeit, die Worte, die er an ihrem Ohr gemurmelt hatte, all die Dinge, die sie für einen Ausdruck der Liebe gehalten hatte – sie waren Teil einer Strategie, einer Täuschung.
Und dann einfach fortzugehen, sie zu verlassen – am Tag nach ihrer Hochzeit! Wenn es Rache war für die Kränkung, die ihm vor so langer Zeit zugefügt worden war, warum übte er sie an ihr? Es ist so ungerecht, dachte sie und wiederholte den kindlichen Protest ein ums andere Mal in Gedanken. So ungerecht, wenn mein einziges Vergehen darin besteht, dass ich ihn liebe.
Ihre Verzweiflung war grenzenlos, vernichtend. Sie wurde abgelöst von kalter Wut. Wie konnte er es wagen, sie derart gefühllos und gleichgültig zu behandeln? Mit welchem Recht unterstellte er ihr alles Schlechte und verweigerte ihr die Möglichkeit, irgendetwas richtigzustellen?
Wenn er zurückkam – und das würde er, allein um seinen Stolz zu wahren –, würde sie ihm doppelt so kalt und distanziert begegnen, wie er selbst es offenbar beabsichtigte. Wenn Rache und Ablehnung die einzigen Gefühle waren, die er anerkannte, würde sie lernen müssen, sie zu empfinden und ebenfalls gegen ihn einzusetzen. Sie würde ihr Herz dazu bringen, ihn nicht mehr zu lieben.
Liebe war nur eine Emotion von vielen, wie Eifersucht oder Gier oder Wut. Man konnte sie kontrollieren, niederkämpfen und mit der Zeit abtöten. Was durch diese Zeilen ohnehin schon halb geschehen ist, dachte Carol bitter.
Sie begann, den Brief zu zerreißen, in immer kleinere Schnipsel, bis sie nur noch so groß waren wie Konfetti. Dann warf sie sie über die Terrassenbrüstung. Sie schwebten in der leichten Brise davon und landeten auf den Wildblumen am Abhang. In der Sonnenhitze war das Blaugrün der Disteln zu Grau verblasst, und das hohe Gras wirkte dürr. Kein Aroma von Thymian lag in der Luft.
Als Carol nach der einsamen Zeit ihrer Flitterwochen in den palazzo zurückkehrte, um ihren Platz als neue Hausherrin einzunehmen, war Nicolas’ Mutter bereits ausgezogen.
„Ich fühle mich, als würde ich dich aus deinem Heim vertreiben“, hatte Carol protestiert, doch die baronessa war bei ihrem Entschluss geblieben.
„So ist es am besten, meine Liebe“, hatte sie gesagt. „Ich weiß genau, ich würde dir ständig gute Ratschläge geben, und nach kürzester Zeit wärst du meiner Tyrannei überdrüssig und würdest dir wünschen, dass ich verschwinde.“
Aber Carol hätte viel um die Unterstützung der älteren Dame gegeben. Bei der Feuerprobe, die ihr bevorstand, brauchte sie jeden Ratschlag, den sie bekommen konnte.
Wie erwartet, hatte sie nichts von Nicolas gehört. Du bist auf dich selbst gestellt, und du schaffst es, redete sie sich zu, als Charles, der Chauffeur der alten baronessa, sie von der Villa abholte. Doch als die Limousine vor dem Eingang des palazzo zum Stehen kam, waren ihre Hände feucht vor Aufregung.
Sie stieg aus, während Charles ihr Gepäck aus dem Kofferraum holte. Seine Miene ließ nicht erkennen, ob er sich darüber wunderte, dass sie allein war.
„Der Baron musste heute eine wichtige geschäftliche Angelegenheit erledigen“, erklärte Carol und versuchte, möglichst selbstsicher zu klingen. „Er hat seinen eigenen Wagen genommen und kommt, sobald er kann.“
Hoffentlich. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll, wenn er es nicht tut.
Am meisten beunruhigte sie im Augenblick jedoch, wie die Angestellten sie aufnehmen würden. Sie war eine Fremde, ein Mädchen, das keiner bedeutenden Familie entstammte, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie viel von ihr hielten, besonders jetzt, da sie den Platz der ehemaligen Hausherrin einnehmen würde, die alle geliebt und geachtet hatten und die überdies dem Hochadel entstammte.
Man begegnete ihr mit einer gewissen Reserviertheit, wie Carol kurz darauf feststellte. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass die Gozitaner Menschen gegenüber, die sie nicht kannten, eher zurückhaltend waren, und sie konnte nicht ahnen, dass das Personal sich längst eine Meinung über sie gebildet hatte. Alle liebten die alte baronessa, doch niemandem war
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