Schauen sie sich mal diese Sauerei an
Patienten und Angehörigen zu unterhalten oder ihre Situation zu kommentieren. Sich selbst schonte Helmuth allerdings auch nicht. Bei einer Todesfeststellung erkannte und verhinderte Hein erst im letzten Augenblick die Absicht unseres Auszubildenden, bei einer zwei Tage alten Leiche eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchzuführen. Es fehlte schlicht am gesunden Menschenverstand, dass einer Leiche in diesem Stadium nicht mehr zu helfen ist. Helmuth war ein Füllhorn der Unmöglichkeiten, mit ihm wurde es nie langweilig. Mal versuchte er mithilfe des Blutzuckermessgerätes den Glukosegehalt in seinem morgendlichen Milchkaffee zu bestimmen, oder er verwechselte das piepsende Geräusch seines Funkmeldeempfängers mit der akustischen Alarmierung eines Beatmungsgerätes. Das resultierende Chaos auf einer Intensivstation verschaffte ihm auch im Krankenhaus einen gewissen Bekanntheitsgrad. Für einen Rettungsdienstpraktikanten ist es schon eine reife Leistung, wenn nach drei Dienstschichten ein Oberarzt im zuständigen Krankenhaus seinen Vornamen kennt. Helmuth war kein Dummkopf. Gerade erst hatte er ein recht passables Abitur hingelegt. Komplizierte naturwissenschaftliche Zusammenhänge waren für ihn so selbstverständlich wie für unsereins das kleine Einmaleins. Er war sogar in der Lage, anhand von chemischen Formeln zu erläutern, warum ein Kältekissen kalt wird, wenn die verschiedenen Inhaltsstoffe miteinander reagieren. Leider brach er sich bei der Handhabung eines handelsüblichen Heftpflasters aber fast beide Hände. Theorie und Praxis fanden keinen Weg zueinander; so groß seine theoretischen Fähigkeiten auch waren, so unterentwickelt waren sein handwerkliches Geschick und verbales Fingerspitzengefühl. Helmuth hatte im Leben außer der Schule und einem behüteten Elternhaus noch nicht viel erleben dürfen. Wahrscheinlich sollte man ihm keinen Vorwurf machen, wenn er alltäglichen Lebenssituationen naiv und bisweilen hilflos gegenüberstand. Während meiner gemeinsamen Dienstzeit mit Helmuth bemannte unsere Wache außer einem Rettungswagen auch zwei Krankenwagen. Der erste von beiden begann seinen Dienst um 7:00 Uhr morgens und läutete gegen 16:00 Uhr den Feierabend ein. Der zweite versah von 9:00 Uhr bis 18:00 Uhr seinen Dienst. Helmuth hatte bereits seine Schicht beendet, als Hein und ich gegen 16:30 Uhr zu einer Patienten Verlegung ins nahe gelegene Krankenhaus alarmiert wurden. Mit circa 80 km/h zockelte ich gemütlich über die Landstraße, als Hein mich auf einen alten roten Toyota aufmerksam machte, der mit Warn-blinker auf dem Seitenstreifen stand. »Fahr mal langsamer, halt mal an. Ich glaube, das war Helmuth. Der Ärmste wird doch keine Panne haben?« »Das wissen wir erst, wenn wir nachgeschaut haben«, antwortete ich und brachte unseren Krankenwagen fünfzig Meter hinter dem Toyota zum Stehen. Hein und ich stiegen aus und gingen an der Leitplanke entlang in Richtung des roten Pkws. Nach wenigen Metern war klar, dass es sich tatsächlich um unseren Praktikanten handelte. Nachdem dieser uns erkannt hatte, winkte er freundlich und machte ein dankbares Gesicht. Wir erreichten die Beifahrerseite des Fahrzeugs und öffneten die Tür. Ich erkundigte mich hilfsbereit: »Was ist los, Helmuth? Können wir helfen? Hast du eine Panne?« »Nein, nein, keine Panne. Es ist nur der Berufsverkehr. Eben, als nur 70 km/h erlaubt waren, drängelte von hinten ein Lkw. Da bin ich rechts rangefahren, um den Brummi vorbeizulassen. Anschließend haben mich die anderen Verkehrsteilnehmer nicht mehr in den fließenden Verkehr zurückgelassen. Seitdem stehe ich hier«, erklärte Helmuth die Sachlage in einem Tonfall, als hätte man ihm im Sandkasten ein Förmchen geklaut. Hein und ich schauten uns fassungslos an. Wir brauchten kein Wort zu wechseln, wortlos schlug Hein die Autotür zu, dann wandten wir uns ab und gingen zurück zu unserem Krankenwagen. Halten Sie uns ruhig für herzlos, aber es gibt Situationen, die muss man im Leben alleine meistern. Menschen wie Helmuth werden natürlich auch häufig Opfer ihres unbedarften Auftretens. Wir waren jung und grausam. Stellen Sie sich einen Haufen junger Rettungssanitäter und Rettungsassistenten vor. Da gilt das Recht des Stärkeren, da wird Darwinismus noch gelebt. Es dürfte klar sein, wer alle Gehässigkeiten und Streiche ertragen musste. Helmuths Duschgel wurde mehr als einmal gegen Autopolitur ausgetauscht, der abperlende Effekt hält eine Weile an und sorgt für geschmeidigen
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