Schaut nicht weg
Umwelt den sexuellen Missbrauchmitzuteilen versucht – selbst wenn es eigentlich noch keine Worte für das Erlebte hat. »Man kann von Kindern nicht erwarten, dass sie ›Ich werde missbraucht!‹ sagen«, erklärt Enders, »vielmehr kommt es vor, dass Mädchen und Jungen sich ›verplappern‹ und Dinge sagen wie zum Beispiel ›Mit Papa spiele ich immer Stehaufmännchen‹. Und da gilt es, wachsam zu werden.« Nicht immer sprechen die Kinder aber über den sexuellen Missbrauch. Auch Puppen- und Rollenspiele oder Bilder können wichtige Hinweise geben, denn Mädchen und Jungen malen häufig Dinge, die sie bewegen oder vor denen sie Angst haben. Bei körperlichen Gewaltszenarien oder überbetonten Geschlechtsmerkmalen in Bildern von Kindern gilt es, besonders aufmerksam zu werden. Doch natürlich ist auch hier Vorsicht angebracht. Denn um die kleinen Kunstwerke richtig interpretieren zu können, ist wiederum das Wissen um die verschiedenen Entwicklungs- und Altersstufen von Kindern wichtig. Experten wissen: Auffälligkeiten in Kinderzeichnungen können auch ganz andere Ursachen haben und allenfalls ein Hinweis darauf sein, dem Kind und seinem sozialen Umfeld mehr Beachtung zu schenken. Statt ein malendes Kind durch gezielte Fragestellungen zu beeinflussen oder zu stören wäre es sinnvoller, das Kind zu bitten, das Bild selbst zu beschreiben. Bei dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch ist es also viel wichtiger, zuzuhören und mitzudenken, als gleich zu interpretieren – das ist die große Herausforderung.
Bei fast allen Menschen löst die Vermutung, dass ein Kind womöglich Opfer sexueller Gewalt geworden ist, starke Betroffenheit aus – und das Gefühl, sofort handeln zu müssen. Eine befreundete Lehrerin etwa berichtete mir von einem Verdachtsfall aus ihrer Klasse, einem Mädchen, das ihr indirekt zu verstehen gab, dass der Stiefvater sexuelleHandlungen an ihr vornahm. Sie schilderte mir ihre Verzweiflung: »Was soll ich tun? Das Kind sitzt jeden Tag vor mir in der Klasse und ich muss immer daran denken, dass sie vielleicht abends zu Hause missbraucht wird! Aber sicher bin ich mir ja auch nicht. Es muss sofort etwas passieren. Aber was?« Trotz intensiver Aufklärung durch absolvierte Weiterbildungen erschien ihr in diesem Fall die Situation als unendlich kompliziert. Und das war sie ja auch, zumal ihr die Mutter des Kindes äußerst sympathisch war und die Familie nach außen stets »heil« gewirkt hatte. Doch bevor in blinden Aktionismus verfallen wird, sollten die Vertrauenspersonen zunächst innehalten und sich gut überlegen: Fühle ich mich überhaupt grundsätzlich in der Lage dazu, dem Opfer zur Seite zu stehen und zu helfen? Denn die Begleitung eines betroffenen Kindes nimmt extrem viel Zeit und Kraft in Anspruch. Und ein Rückzug nach anfänglicher Unterstützung kann sich für das junge Opfer als äußerst belastend auswirken. Es ist in der Regel eine gute Idee, sich eine weitere vertrauenswürdige Person ins Boot zu holen, um sich bei diesem schwierigen Prozess von ihr begleiten zu lassen oder bei eigenem Nichtvermögen die Situation an sie zu delegieren. Die mir bekannte Lehrerin etwa holte sich als weitere Ansprechpartnerin die Direktorin an ihre Seite. Auch dann jedoch sollten die außenstehenden Personen ganz in Ruhe vorgehen. Denn jedes übereilte Handeln schadet den betroffenen Kindern.
Vorsicht ist vor allem geboten bei dem Versuch, das junge Opfer zu den Ereignissen zu interviewen. Gerade unüberlegte Fragen können das Kind erst Recht zum Schweigen bringen. Das Opfer darf also unter keinen Umständen gedrängt oder gezwungen werden, über seine Erlebnisse zu berichten. Und selbst wenn es dies irgendwann tut, sollten die Vertrauenspersonen den Berichten des Kindes keinesfallszu wertend gegenüberstehen. »Die Vertrauensperson sollte Gefühle wie zum Beispiel Betroffenheit, Ekel, Aufregung oder Wut vor dem betroffenen Kind verbergen«, schreibt die Pädagogin Elke Seisenbacher in einer Studie über Kindesmissbrauch, »Wenn ein Kind von seinem ›Geheimnis mit dem Papa‹ erzählt, der immer Zaubertricks macht und seinen Pimmel lachen und weinen lassen kann, sollte der Zuhörer gelassen reagieren, um das Vertrauensverhältnis nicht zu zerstören. Dem Kind sollte Sicherheit gegeben werden, dass sein Ansprechpartner mit dem Problem umgehen kann und fähig ist, den sexuellen Missbrauch zu beenden. Fehlverhalten könnte dazu führen, dass das Kind alle Erzählungen revidiert oder in Zukunft
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