Schaut nicht weg
wollen sich nicht »anstellen« und gehen außerdem davon aus, dass die Berührungen versehentlich erfolgt sind. Dann wiederum gibt es Kinder, die fühlen sich unwohl und sagen das dem Onkel oder der Bademeisterin – und erzählen es spätestens dann einer Vertrauensperson, wenn sie trotz ihres »Ich will das nicht« nochmals so angefasst werden.
Abhängig von der Reaktion des Kindes wird der Täter nach einiger Zeit wieder eine Situation herbeiführen, in der er das Kind anfassen kann. Nur wird der Onkel dieses Mal seine Hand länger auf dem Penis des Neffen liegen lassen. Und dann werden die Übergriffe zeitlich und körperlich intensiviert. Manche Kinder machen anfangs noch mit, weil sie neugierig sind oder während der sexuellen Handlungen zunächst diffuse Lustgefühle empfinden. Doch der sexuelle Missbrauch entwickelt sich allmählich weiter und aus dem Gefühl der Geborgenheit wird Angst, aus angenehmen Empfindungen Ekel und Schmerz, aus Spiel bedrohlicher Ernst. Parallel dazu versucht der Täter, dem Kind die (Mit-) Schuld und (Mit-)Verantwortung zu übertragen. Er sagt: »Dir gefällt das doch auch, sonst wärest du nicht wiedergekommen!« Die Kinder haben dieser Taktik häufig nur wenig entgegenzusetzen. Denn meist fühlen sie sich ohnehin schon schuldig. Gerade missbrauchte Jungen haben oft große Angst, nun als homosexuell zu gelten. Bis das Kind merkt, was passiert, und sich Hilfe holen will, ist es meist völlig eingebunden in die Missbrauchsdynamik. Es hatschon so viele negative Botschaften des Täters erhalten (»Dir glaubt eh niemand, wenn du das erzählst«), dass es sich nur schwer daraus lösen kann. Zusätzlich zu den Scham- und Schuldgefühlen hat es aber auch häufig keine Worte, um zu erklären, was passiert ist. Es kann sich keine Hilfe holen und sich nicht abgrenzen – und der sexuelle Missbrauch dauert an.
Gleichzeitig wird der Täter versuchen, das Kind immer stärker zu isolieren. Er wird versuchen, die anderen Mitglieder der Familie, die Schulklasse oder den Verein gegen das Kind aufzuhetzen – oder das Kind so offensichtlich vorziehen, dass die anderen Geschwister oder Kinder neidisch werden. Überdies wird der Täter gezielt Misstrauen und Spannungen zwischen dem Kind und seinen Eltern (beziehungsweise dem nicht missbrauchenden Elternteil) zu erzeugen versuchen, so dass diese immer weniger miteinander im Gespräch sind. So wird es für das Kind noch schwieriger, sich jemandem anzuvertrauen, und es sieht kaum noch Schutzmöglichkeiten. Das Kind versucht dann häufig, Ausweichstrategien zu entwickeln. Es besorgt sich einen Zimmerschlüssel, um sich einzuschließen, oder lädt Übernachtungsbesuch ein. Manchmal versucht es auch, Vereinbarungen mit dem Täter zu treffen: »Du fasst mich nur montags und donnerstags an, an den anderen Tagen lässt du mich in Ruhe«. Die Täter lassen sich häufig zumindest vorübergehend auf solche »Deals« ein, um sich das Schweigen des Mädchens oder Jungen zu sichern und deren Gefühl, mitverantwortlich an den sexuellen Handlungen zu sein, zu steigern. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen bekommen so das Gefühl, einen Teil der Kontrolle zu haben und zumindest teilweise geschützt zu sein.
Viele betroffene Kinder und Jugendliche befinden sich überdies in einem psychischen, sozialen oder wirtschaftlichenAbhängigkeitsverhältnis zum Täter und entwickeln dementsprechend ambivalente Gefühle ihrem Peiniger gegenüber. Diese Gefühle machen es ihnen oft schwer bis unmöglich, ihren Peiniger zu enttarnen. Sie erleben beispielsweise, dass sie vom Täter zu dessen Bedürfnisbefriedigung ausgenutzt werden – kommen aber gleichzeitig in den »Genuss« einer bevorzugten Behandlung, etwa, indem sie vom Stiefvater mehr Taschengeld als die Geschwister erhalten, als »Lieblingsenkel« des Großvaters gelten, vom Lehrer bessere Noten bekommen. Sie erleben sich als ohnmächtig und vom Täter bedroht – und fühlen sich aber dennoch mächtig genug, um andere beschützen zu können, indem sie durch ihr Schweigen beispielsweise verhindern, dass die Familie auseinanderfällt, die jüngere Schwester vom Täter missbraucht oder die Mutter von ihm geschlagen wird. Sie übernehmen also die Verantwortung für die Wahrung des »Familiengeheimnisses«, mit dem Zweck, die scheinbar »heile Welt« weiterhin für die anderen aufrechtzuerhalten. Und obwohl sie den Missbrauch gern beenden würden, haben sie manchmal Angst davor, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn
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