Scheherazade macht Geschichten
MENSCHENFRESSERIN
›Es war einmal ein König‹, begann der Wesir, ›der hatte einen Sohn, der es liebte, auf die Jagd zu gehen. Weil der König sich jedoch große Sorgen um seinen Sohn machte – denn dieser war noch sehr jung –, hatte er einem seiner unbedeutenderen Wesire befohlen, den Jungen stets auf seinen Ausflügen zu begleiten. Und so kam es, daß jener Wesir und der Sohn des Königs wieder einmal zu einer ihrer vielen Jagden aufbrachen, ausgerüstet mit dem goldenen Sattel des Prinzen, seinem juwelenbesetzten Köcher und seinen reichverzierten Pfeilen, denn der König stattete seinen Sohn stets nur mit dem Allerbesten aus.
Doch dieser Ausflug war anders als alle anderen. Denn als sie so durch die Wildnis streiften, sahen der Prinz und der Wesir ein wirklich wundersames Tier vor ihnen auftauchen, mit riesigen Hauern und einer Haut, die so dick war wie die eines Elefanten, aber die rosige Farbe eines jungen Morgens aufwies. Außerdem hatte das Tier eine lange Mähne, die aussah, als bestünde sie aus Federn, von denen die eine Hälfte in tiefstem Grün und die andere im strahlendsten Gelb wilder Frühlingsblumen leuchtete.
Nun, der Wesir, der wußte, um was für ein Tier es sich handelte, rief seinem jungen Schützling schnell zu: ›Ihr nach, denn sie ist eine Beute, die zu jagen sich wirklich lohnt!‹ Also stürmte der Prinz zu seinem Rappen, doch der Wesir hielt ihn zurück: ›Nehmt mein Pferd, denn es steht näher!‹ Und so bestieg der Prinz das Pferd des Wesirs, eine prachtvolle Stute, die allerdings nicht so gut wie sein Rappe ausgerüstet war. Er gab ihr die Sporen und jagte hinter dieser merkwürdigen Kreatur her. Doch diese war schnell und schon bald außer Sichtweite, so daß der Prinz ihren Spuren folgen mußte, die aus einer nicht weniger merkwürdigen Mischung aus Huf und Fuß zu bestehen schienen. Nach kurzer Zeit verschwanden allerdings auch diese Spuren.
Der Prinz wußte nicht, was er tun sollte, als er plötzlich ein lautes, anhaltendes Weinen auf der anderen Seite des Hügels hörte, den er gerade hinaufritt. Er trieb sein Pferd wieder an, und bald entdeckte er eine wunderschöne, junge Frau, in feinste Gewänder gehüllt, die am Wegrand saß und ihren Tränen freien Lauf ließ. Als er sich ihr näherte, sah sie ihn voller Verwunderung an und rief: ›Endlich kommt jemand, um mich zu retten! Ich bin mit einer Karawane aus der Stadt Hind aufgebrochen. Um der Hitze des Tages zu entgehen, durchreisten wir des Nachts diese Gegend. Dummerweise schlief ich ein und fiel von meinem Pferd, doch da es dunkel war, merkte es niemand, und die Karawane zog weiter. Ich wurde hier zurückgelassen, und ich fürchtete schon, daß ich sterben müßte!‹
Nun war der Prinz aufgrund seiner Erziehung schon immer ein hilfsbereiter Mann gewesen, und da er Mitleid für dieses Mädchen empfand, sagte er: ›Fürchtet Euch nicht, holde Jungfrau, denn ich werde Euch nach Hause bringen.‹
Als sie das hörte, klatschte die junge Frau vor Freude laut in die Hände und gestattete es dem Prinzen, sie auf seinen Sattelbogen zu heben, damit sie ihm die Richtung weisen konnte. Während sie so dahinritten, bemühte der Prinz sich, ein Gespräch in Gang zu bringen, um mehr über das Mädchen zu erfahren.
›Ihr seid also mit einer Karawane unterwegs gewesen?‹ fragte er daher sehr höflich.
›Ja‹, antwortete sie sehr zurückhaltend, ›wir kamen von Hind.‹
›Und was war Euer Ziel?‹ versuchte er es weiter.
›Wir kamen von Hind‹, erwiderte die junge Frau lächelnd.
Der junge Mann runzelte die Stirn. Möglicherweise, so überlegte er sich, sprachen sie in dieser fremden Stadt eine Sprache, die sich, wenn auch nur geringfügig, von der seinen unterschied. Nun ja, wenn er damit keinen Erfolg hatte, würde er es eben auf andere Weise versuchen. Daher fragte er: ›Und Ihr seid von Eurem Pferd gefallen?‹
Die junge Frau sah ihn einen Augenblick lang voller Unverständnis an, bevor ihre Miene sich aufhellte und sie antwortete: ›Ob ich von meinem Pferd gefallen bin? Oh, ja. Weil es dunkel war, fiel es niemandem auf, und die Karawane zog einfach ohne mich weiter.‹
›Und habt Ihr hier lange ausharren müssen?‹ hakte der Prinz nach.
Die junge Dame nickte heftig. ›Seit ich von meinem Pferd gefallen bin. Habe ich schon erwähnt, daß ich geschlafen habe, als es geschah? Ich wurde hier zurückgelassen, und ich fürchtete schon, daß ich sterben würde!‹
Der Prinz mußte sich eingestehen, daß
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