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Scheherazade macht Geschichten

Titel: Scheherazade macht Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Shaw Gardner
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KROKODILEN
    UND DEN SIEBEN HASEN UND DEN SECHS ZIEGEN
    UND DEN FÜNF HÜHNERN UND DEN
    SECHSUNDZWANZIG WASSERMELONEN UND DEM
    STREIT, DER SICH DARÜBER ENTSPANN
     
    ›Aber nein!‹ rief der Medicus verzweifelt. ›Unter diesen Umständen kann ich keine Geschichte erzählen!‹
    Der König runzelte die Stirn. Da er den Doktor bereits zum Tode verurteilt hatte, gab es wohl kein wirksameres Mittel mehr, ihn dazu zu zwingen, seine Geschichte zu erzählen. Was ausgesprochen schade war, wie der König fand, denn der Titel hatte sich wirklich vielversprechend angehört.
    ›Nun gut‹, meinte er. ›Dann mal weg mit dem Kopf, damit der Wesir und ich uns weiter unterhalten können.‹
    Als er einsah, daß es keine Hoffnung mehr für ihn gab, hörte der Medicus auf, um Gnade zu flehen, und bat den König statt dessen, ihm wenigstens eine Stunde Zeit zu geben, in der er seinen Nachlaß regeln, seine Schulden bezahlen, sein Begräbnis arrangieren, seine Bibliothek auflösen, seine Diener entlassen, etwas Karten spielen, ein paar stille Minuten mit einigen engen Freunden verbringen und außerdem seinen größten Schatz zum Palast bringen könne. Diese Gunst gestand der König ihm zu, denn wenn er auch ein wenig starrköpfig war, so erkannte er doch sehr wohl, daß er Rayyans Todesurteil vielleicht ein wenig überhastet gefällt hatte.
    Der Doktor machte sich rasch von dannen, und eine Stunde später kehrte er zum Palast zurück, denn er war nicht nur sehr schnell im Erledigen seiner Angelegenheiten, nein, er war auch ein Mann von Ehre. Und als er nun erneut vor den König trat, da hielt er ein großes Buch und eine Schachtel voll gemahlenem Pulver in den Händen. Als der König diese Gegenstände sah, wollte er sie sofort näher betrachten.
    ›Es ist an der Zeit, euch ein letztes Wunder zu zeigen‹, verkündete der Medicus, ›denn sobald mein Kopf von meinen Schultern getrennt ist, wird meine Stimme aus dem Grabe zu Euch sprechen.‹
    ›Wahrlich, dies ist ein großes Wunder‹, rief der König aufgeregt. ›Sag uns, was wir tun müssen!‹
    ›Zuerst muß der, der die größten Geheimnisse erlernen will, ein wenig von diesem Pulver hier auf seine Finger streuen. Dann ist er bereit, das Mysterium des Buches zu ergründen.‹
    Der König starrte auf den dicken Wälzer, den er inzwischen auf seinem Schoß liegen hatte, und fragte: ›Was ist das für ein Buch?‹
    ›In ihm sind die größten Geheimnisse aller Zeiten aufgezeichnet‹, erklärte der Doktor, ›und das geringste davon lautet folgendermaßen: Sobald mein Kopf von meinen Schultern getrennt ist, muß man drei Seiten des Buches umschlagen und dann jene drei Zeilen lesen, die links oben in der Ecke der vierten Seite stehen. Augenblicklich wird sich der Mund meines abgetrennten Kopfes öffnen, und ich werde jede Eurer Fragen von jenseits des Grabes beantworten.‹
    ›Dann soll es so geschehen‹, rief der König voller Aufregung.
    ›Obwohl ich natürlich keinerlei Einfluß auf Eure Entscheidungen habe‹, fuhr der Medicus fort, ›so erbitte ich mir dennoch eine letzte Gnade. O großer König, da Ihr so besorgt seid um Eure Zukunft, sollte vielleicht Euer Großwesir das Buch öffnen und Euch die Geheimnisse enthüllen.‹
    Doch davon wollte der König nichts wissen. ›Unsinn! Niemandem außer mir soll es erlaubt sein, ein solches Wunder geschehen zu lassen!‹
    ›Nun, so sei es denn‹, entgegnete der Medicus und ließ sich ohne Gegenwehr von den Wachen zum Block des Henkers führen. ›Und wenn ich Euch noch einmal daran erinnern darf, mein König, am besten lest Ihr erst in dem Buch, nachdem mein Kopf bereits von meinen Schultern getrennt ist.‹
    Der König konnte sich allerdings nicht so lange gedulden. Also verteilte er etwas von dem Pulver auf seine Fingerspitzen und öffnete das Buch – noch bevor Rayyan den Henker erreicht hatte. Angestrengt versuchte der ungeduldige Herrscher, die erste Seite umzublättern – noch bevor der Medicus sich hingekniet hatte. Aber die Seiten klebten fest aneinander, und so mußte der König noch mehr Pulver auf seine Finger verstreuen. Zusätzlich leckte er noch über seine Fingerspitzen, um sie zu befeuchten. Mit der zweiten Seite ging es ihm ebenso, und bei der dritten war es nicht anders. Und jede dieser Seiten war vollkommen leer: kein Buchstabe, kein Zeichen, nichts.
    ›Hier steht ja gar nichts‹, beschwerte sich der König.
    ›Vielleicht habt Ihr nur noch nicht weit genug geblättert‹, entgegnete der Medicus.

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