Scheintot
kommt.«
Silver nickte. »Das wollen wir doch alle.«
15
Es war schon dunkel, als Maura in die ruhige Straße in Brookline einbog, in der sie wohnte. Sie fuhr vorbei an vertrauten Häusern und Vorgärten. Sah wie immer den rothaarigen Nachbarsjungen mit seinem Basketball nach dem Korb über dem Garagentor zielen. Und ihn wie üblich verfehlen. Alles schien noch genau wie gestern; ein ganz normaler Sommerabend in der Vorstadt. Aber heute Abend ist alles anders, dachte sie. Heute Abend würde sie nicht noch gemütlich bei einem Glas Weißwein in der neuen
Vanity Fair
schmökern. Wie konnte sie sich ihren gewohnten Genüssen hingeben, wenn sie daran dachte, was Jane in diesem Moment durchmachte?
Falls Jane überhaupt noch am Leben war.
Maura fuhr in ihre Garage und trat ins Haus, dankbar für den kühlen Hauch aus der Klimaanlage. Sie würde nicht lange bleiben; sie war nur gekommen, um rasch einen Happen zu essen, zu duschen und frische Kleider anzuziehen. Schon wegen dieser kurzen Atempause hatte sie ein schlechtes Gewissen. Ich werde Gabriel ein paar Sandwiches mitbringen, dachte sie. Sie bezweifelte, dass er im Lauf des Tages auch nur einen Gedanken ans Essen verschwendet hatte.
Sie war gerade aus der Dusche gestiegen, als sie die Türklingel hörte. Rasch schlüpfte sie in einen Bademantel und eilte hin, um zu öffnen.
Peter Lukas stand auf der Schwelle. Erst am Morgen hatte sie mit ihm gesprochen, aber sein zerknittertes Hemd und die tiefen Ringe unter seinen Augen ließen erkennen, welchen Tribut die Stunden, die seither vergangen waren, von ihm gefordert hatten. »Entschuldigen Sie, dass ich einfach so hier aufkreuze«, sagte er. »Ich habe vor ein paar Minuten versucht, Sie anzurufen.«
»Ich habe das Telefon nicht gehört. Ich war unter der Dusche.«
Nur für einen kurzen Moment fiel sein Blick auf ihren Bademantel, dann sah er bewusst an ihr vorbei und fixierte einen Punkt über ihrer Schulter, als sei es ihm peinlich, eine Frau in diesem Aufzug direkt anzuschauen. »Kann ich Sie kurz sprechen? Ich brauche Ihren Rat.«
»Meinen Rat?«
»In dieser Sache, die die Polizei von mir verlangt.«
»Sie haben mit Captain Hayder gesprochen?«
»Und mit diesem FBI-Typen. Agent Barsanti.«
»Dann wissen Sie ja bereits, was die Geiselnehmer wollen.«
Lukas nickte. »Deswegen bin ich hier. Ich muss wissen, was Sie von dieser verrückten Geschichte halten.«
»Sie denken ernsthaft darüber nach, es zu tun?«
»Ich muss wissen, was Sie an meiner Stelle tun würden, Dr. Isles. Ich vertraue Ihrem Urteil.« Jetzt endlich sah er ihr in die Augen, und sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Unwillkürlich hüllte sie sich fester in den Bademantel.
»Kommen Sie herein«, sagte sie schließlich. »Ich ziehe mich nur schnell an, dann können wir darüber reden.«
Während er im Wohnzimmer wartete, kramte sie im Kleiderschrank nach einer sauberen Hose und einer Bluse. Vor dem Spiegel blieb sie stehen und verzog das Gesicht, als sie ihr verschmiertes Make-up und ihr zerzaustes Haar sah. Er ist doch nur ein Reporter, dachte sie. Das ist kein Date. Es ist vollkommen egal, wie du aussiehst.
Als sie schließlich ins Wohnzimmer zurückging, sah sie ihn am Fenster stehen und auf die dunkle Straße hinausblicken. »Die Sache ist inzwischen auf allen Kanälen«, sagte er, während er sich zu ihr umdrehte. »In diesem Augenblick sehen sie es drüben in L.A. im Fernsehen.«
»Denken Sie deswegen darüber nach, sich darauf einzulassen? Weil es Sie berühmt machen könnte? Weil Ihr Name dann in die Schlagzeilen käme?«
»O ja, ich sehe sie schon vor mir: ›Reporter durch Kopfschuss getötet.‹ Auf so eine Schlagzeile war ich schon immer scharf.«
»Es ist Ihnen also klar, dass es keine besonders kluge Entscheidung wäre.«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Wenn Sie meinen Rat wollen…«
»Ich will mehr als nur Ihren Rat. Ich brauche Informationen.«
»Was kann ich Ihnen schon sagen?«
»Sie könnten mir zum Beispiel verraten, was das FBI hier tut.«
»Sie sagen doch, Sie haben mit Agent Barsanti gesprochen. Haben Sie ihn nicht gefragt?«
»Ich habe gehört, dass auch ein gewisser Agent Dean involviert sein soll. Barsanti wollte mir partout nichts über ihn sagen. Warum schickt das FBI eigens zwei Leute aus dem fernen Washington, wo doch die Bostoner Polizei sehr wohl allein mit dieser Krise fertig werden könnte?«
Seine Frage alarmierte sie. Wenn er schon über Gabriel Bescheid wusste,
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