Scheintot
diesem Abend keine Frau vorbeigekommen sei. Ich ging nach Hause und hatte die Sache schon bald vergessen. Bis jetzt.« Er hielt inne. »Ich frage mich, ob der Anrufer dieser Joe war.«
»Wie kam er ausgerechnet auf Sie?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Diese Leute scheinen Sie aber zu kennen.«
»Vielleicht haben sie meine Kolumne gelesen. Vielleicht sind es Fans von mir.« Als Maura schwieg, lachte er selbstironisch. »Kaum sehr wahrscheinlich, ich weiß.«
»Sind Sie jemals im Fernsehen aufgetreten?«, fragte sie und dachte dabei: Er hat das richtige Gesicht dafür, die dunkle, attraktive Erscheinung.
»Nein, nie.«
»Und Sie haben immer nur in der
Boston
Tribune
veröffentlicht?«
»
Nur!
Nettes Kompliment, Dr. Isles.«
»So war das nicht gemeint.«
»Ich bin seit meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr Reporter. Anfangs habe ich als freier Journalist Beiträge für den
Boston Phoenix
und das
Boston Magazine
geschrieben. Aber als Freier lebt man mehr oder weniger von der Hand in den Mund, also war ich froh, als ich irgendwann eine Stelle bei der
Tribune
bekam. Angefangen habe ich als Lokalreporter, dann war ich ein paar Jahre lang Korrespondent in Washington. Als mir dann eine wöchentliche Kolumne angeboten wurde, ging ich wieder zurück nach Boston. Ich bin also schon eine ganze Weile in diesem Geschäft. Ich verdiene mir keine goldene Nase, aber offensichtlich habe ich den einen oder anderen Fan. Denn wie es scheint, weiß dieser Joseph Roke ja, wer ich bin.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Wenigstens hoffe ich, dass er ein Fan ist. Und nicht ein verärgerter Leser.«
»Selbst wenn er ein Fan von Ihnen ist – das ist eine gefährliche Situation, in die Sie sich da begeben.«
»Ich weiß.«
»Sie wissen, wie die Sache ablaufen soll?«
»Nur ein Kameramann und ich. Es soll live über einen lokalen Fernsehsender übertragen werden. Ich nehme an, dass die Geiselnehmer eine Möglichkeit haben zu überprüfen, ob wir tatsächlich auf Sendung sind. Ich gehe auch davon aus, dass sie mit der üblichen Verzögerung von fünf Sekunden einverstanden sein werden, für den Fall …« Er brach ab.
Für den Fall, dass etwas fürchterlich schief geht.
Lukas holte tief Luft. »Was würden Sie tun, Dr. Isles? An meiner Stelle?«
»Ich bin keine Journalistin.«
»Sie würden sich also weigern.«
»Kein normaler Mensch würde sich freiwillig in die Gewalt von Geiselnehmern begeben.«
»Soll das heißen, dass Journalisten keine normalen Menschen sind?«
»Denken Sie einfach nur gründlich darüber nach.«
»Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Dass vier Geiseln lebend da rauskommen könnten, wenn ich es tue. Dann wird endlich auch einmal etwas, was ich tue, eine Schlagzeile wert sein.«
»Und dafür sind Sie bereit, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen?«
»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen«, entgegnete er. Und setzte mit schlichter Aufrichtigkeit hinzu: »Aber ich habe auch wahnsinnige Angst davor.« Seine Ehrlichkeit war entwaffnend; nur wenige Männer hatten den Mut zuzugeben, dass sie Angst hatten. »Captain Hayder will bis neun Uhr heute Abend meine Antwort wissen.«
»Was werden Sie tun?«
»Der Kameramann hat sich schon bereit erklärt, es zu machen. Da käme ich mir wie ein Feigling vor, wenn ich es nicht täte. Zumal, wenn dadurch vier Geiseln gerettet werden könnten. Ich muss immer an all die Reporter denken, die zurzeit in Bagdad sind, und an das, was diese Kollegen jeden Tag durchmachen. Das hier dürfte im Vergleich dazu ein Spaziergang sein. Ich gehe da rein, rede mit den Spinnern, lass mir von ihnen ihre Geschichte erzählen und verschwinde wieder. Vielleicht ist das ja alles, was sie wollen – eine Gelegenheit, Dampf abzulassen; die Leute zu zwingen, ihnen zuzuhören. Ich könnte die ganze Krise beenden, indem ich es tue.«
»Sie wollen als Retter dastehen.«
»Nein! Nein, ich versuche nur …« Er lachte. »Ich versuche nur, eine Rechtfertigung dafür zu finden, dass ich dieses irrsinnige Risiko eingehe.«
»Das haben jetzt Sie gesagt, nicht ich.«
»Die Wahrheit ist: Ich bin kein Held. Ich habe nie einen Sinn darin gesehen, mein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Aber das hier ist mir genauso ein Rätsel wie Ihnen. Ich will wissen, warum sie sich mich ausgesucht haben.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist schon fast neun. Ich sollte wohl besser Barsanti anrufen.« Er stand auf und begann, zur Tür zu gehen. Plötzlich blieb er stehen und blickte
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