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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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werden.
    Die Flasche war schon halb leer.
    Kleines Ferkel. Das wäre doch ein passender Name.
    Jane blätterte weiter zu den Namen mit M. Mit trüben Augen überflog sie die Liste, prüfte jeden Vorschlag und sah dann wieder auf ihr ungestümes Neugeborenes hinab.
    Mercy? Meryl?
Mignon?
Kam alles nicht in Frage. Sie blätterte weiter; ihre Augen waren inzwischen so müde, dass sie die Buchstaben kaum noch entziffern konnte. Warum ist das bloß so schwer? Das Mädchen braucht einen Namen, also such einfach einen aus! Ihr Blick wanderte die Seite hinunter und stoppte unvermittelt.
    Mila.
    Jane erstarrte, als sie den Namen las, und ein kalter Schauer kroch ihr über den Rücken. Sie merkte, dass sie den Namen laut ausgesprochen hatte.
    Mila.
    Es wurde urplötzlich kalt im Zimmer, als wäre ein Geist zur Tür hereingeglitten, der nun direkt hinter ihr schwebte. Sie musste sich unwillkürlich umdrehen. Zitternd stand sie auf und trug ihre inzwischen eingeschlafene Tochter zu ihrem Bettchen. Aber die kalte Hand der Angst hielt sie weiter gepackt, und sie blieb noch einem Moment im Kinderzimmer, setzte sich in den Schaukelstuhl und schlang die Arme um die Brust. Warum zitterte sie so? Wieso hatte der Name Mila sie so beunruhigt? Während ihr Baby schlief und die Minuten bis zur Morgendämmerung verrannen, schaukelte sie und schaukelte …
    »Jane?«
    Erschrocken blickte sie auf und sah Gabriel in der Tür stehen. »Wieso kommst du nicht ins Bett?«
    »Ich kann nicht schlafen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
    »Ich glaube, du bist einfach nur müde.« Er kam ins Zimmer und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Du musst schleunigst wieder ins Bett.«
    »Mein Gott, ich stelle mich so furchtbar blöd an.«
    »Wovon redest du?«
    »Niemand hat mir gesagt, wie schwer es sein würde, dieses Muttersein. Ich kann sie noch nicht mal stillen. Jede Katze weiß, wie sie ihre Jungen füttern muss, aber ich bin einfach ein hoffnungsloser Fall. Sie will und will sich nicht beruhigen.«
    »Jetzt scheint sie ja gut zu schlafen.«
    »Das ist nur, weil ich ihr Fertigmilch gegeben habe. Aus einer
Flasche.
« Sie schnaubte verächtlich. »Ich konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Sie war hungrig und hat geschrien, und da stand diese Dose im Schrank. Pah, wer braucht noch Mütter, wo es doch Milchpulver gibt?«
    »Oh, Jane. Darüber hast du dich also so aufgeregt?«
    »Das ist nicht witzig.«
    »Ich lache ja gar nicht.«
    »Aber ich höre doch an deiner Stimme, was du denkst.
Wie kann man nur so albern sein.
«
    »Ich glaube, dass du erschöpft bist, sonst nichts. Wie oft bist du aufgestanden?«
    »Zweimal. Nein, dreimal. Herrgott, ich kann mich nicht mal mehr erinnern.«
    »Du hättest mir einen Schubs geben sollen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass du aufgestanden bist.«
    »Es ist nicht bloß das Baby. Es sind auch …« Jane hielt inne. Und sagte leise: »Es sind die Träume.«
    Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Was sind das für Träume?«
    »Es ist immer wieder ein und derselbe. Ich träume von dieser Nacht im Krankenhaus. Im Traum weiß ich, dass etwas Furchtbares passiert ist, aber ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht sprechen. Ich spüre Blut auf meinem Gesicht, ich kann es schmecken. Und ich habe solche Angst, dass …« Sie holte tief Luft. »Ich stehe Todesängste aus, weil ich denke, es ist dein Blut.«
    »Es ist erst drei Tage her, Jane. Du hast die Ereignisse noch nicht ganz verarbeitet.«
    »Ich will nur, dass es endlich aufhört.«
    »Du brauchst Zeit, um über die Albträume hinwegzukommen.« Leise fügte er hinzu: »Wir brauchen beide Zeit.«
    Sie hob den Kopf, blickte in seine müden Augen, sein unrasiertes Gesicht. »Du hast sie auch?«
    Er nickte. »Das sind die Nachwirkungen des Schocks.«
    »Das hast du mir noch gar nicht erzählt.«
    »Es wäre verwunderlich, wenn wir keine Albträume hätten.«
    »Worum drehen sich deine?«
    »Um dich. Das Baby …« Er brach ab, und sein Blick glitt von ihr ab. »Ich möchte lieber nicht darüber reden.«
    Sie schwiegen eine Weile, ohne einander anzusehen. Nur ein paar Schritte weiter schlief ihre Tochter friedlich in ihrem Bettchen, das einzige Familienmitglied, das nicht von Albträumen geplagt wurde. Das ist es, was die Liebe mit einem macht, dachte Jane. Sie macht einen ängstlicher, nicht mutiger. Sie macht die ganze Welt zu einem reißenden Raubtier, das nur darauf lauert, ganze Stücke aus deinem Leben

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