Scheintot
herauszureißen.
Gabriel streckte die Hand aus und ergriff ihre. »Komm jetzt, Schatz«, sagte er leise. »Lass uns ins Bett gehen.«
Sie schalteten das Licht im Kinderzimmer aus und schlüpften leise in ihr dunkles Schlafzimmer. Unter der kühlen Decke hielt er sie im Arm. Draußen färbte sich der Nachthimmel allmählich schon grau, und die typischen Geräusche des Tagesanbruchs drangen durchs Fenster. Für ein Stadtkind wie Jane waren das Getöse eines Müllwagens oder das Wummern von Autoradios so vertraut wie ein Wiegenlied. Während Boston sich allmählich aus den Federn wälzte, um den Tag zu begrüßen, schlief Jane endlich ein.
Sie erwachte mit einem fröhlichen Lied im Ohr. Im ersten Moment fragte sie sich, ob es wieder nur ein Traum war, ein viel angenehmerer allerdings, geknüpft aus alten Kindheitserinnerungen. Als sie die Augen aufschlug, sah sie die Sonne durch die Jalousien blitzen. Es war schon zwei Uhr mittags, und Gabriel war verschwunden.
Sie stand auf und tappte barfuß in die Küche. An der Tür blieb sie stehen und blinzelte verdutzt. Da saß ihre Mutter mit dem Baby im Arm am Küchentisch. Angela blickte zu ihrer Tochter auf, die sie nur entgeistert anstarrte.
»Schon zwei Fläschchen. Um ihren Appetit brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
»Mom. Du hier?«
»Habe ich dich geweckt? Das tut mir aber Leid.«
»Wann bist du gekommen?«
»Vor ein paar Stunden. Gabriel sagte, du müsstest mal ausschlafen.«
Jane lachte verwirrt. »Er hat dich angerufen?«
»Wen soll er denn sonst anrufen? Hast du vielleicht sonst noch irgendwo eine Mutter?«
»Nein, ich bin bloß …« Jane sank auf einen Stuhl und rieb sich die Augen. »Ich bin noch nicht richtig wach. Wo ist er?«
»Er ist vor einer Weile gegangen. Hat einen Anruf von diesem Detective Moore gekriegt und ist sofort aufgebrochen.«
»Worum ging es bei dem Anruf?«
»Ich weiß es nicht. Irgendeine Polizeisache. Da ist frischer Kaffee. Und du solltest dir die Haare waschen. Du siehst aus wie ein Höhlenmensch. Wann hast du eigentlich zuletzt was gegessen?«
»Gestern Abend, glaube ich. Gabriel hat was vom Chinesen mitgebracht.«
»Vom Chinesen? Na, das hält doch nicht lange vor. Mach dir Frühstück, trink einen Kaffee. Ich habe hier alles im Griff.«
Ja, Mom. Das hattest du immer schon.
Jane stand nicht gleich auf. Stattdessen blieb sie noch eine Weile sitzen und betrachtete Angela, die ihre Enkelin im Arm hielt. Sah zu, wie das Baby die winzigen Händchen ausstreckte und neugierig Angelas lächelndes Gesicht betastete.
»Wie hast du das geschafft, Mom?«, fragte Jane.
»Gib ihr zu trinken, sing ihr was vor – sie will, dass du dich um sie kümmerst, das ist alles.«
»Nein, ich meine, wie du es geschafft hast, uns drei großzuziehen. Mir war nie so richtig klar, wie schwer das für dich gewesen sein muss mit drei Kindern in fünf Jahren.«
Lachend fügte sie hinzu: »Zumal, da einer von den dreien unser Frankie war.«
»Ha! Dein Bruder war nicht das Problemkind. Das warst du.«
»Ich?«
»Die ganze Zeit hast du geschrien. Bist alle drei Stunden aufgewacht. Bei dir konnte keine Rede sein von
schlummern wie ein Baby.
Frankie ist damals noch in Windeln durchs Haus gekrabbelt, und ich war die ganze Nacht auf den Beinen und bin mit dir auf dem Arm im Zimmer auf und ab gegangen. Von deinem Vater konnte ich keine Hilfe erwarten. Du kannst von Glück sagen – dein Gabriel, der versucht ja immerhin, dir ein bisschen was abzunehmen. Aber dein Papa?« Angela schnaubte verächtlich. »Der hat behauptet, von dem Windelgestank würde ihm schlecht und deswegen könnte er das nicht machen. Als ob ich eine Wahl gehabt hätte. Er hat sich jeden Morgen in die Arbeit verdrückt, und ich saß da mit euch beiden, und Mikey war auch schon unterwegs. Frankie hat ständig seine Patschhändchen in irgendwas dringehabt, und du hast dir die Seele aus dem Leib gebrüllt.«
»Warum habe ich so viel geschrien?«
»Manche Babys sind nun mal geborene Schreikinder. Sie lassen partout nicht zu, dass man sie ignoriert.«
Na, das erklärt ja einiges, dachte Jane und sah ihr Baby an. Ich habe bekommen, was ich verdiene. Ich habe mich selbst als Tochter gekriegt.
»Und wie hast du es nun eigentlich geschafft?«, fragte Jane. »Ich habe nämlich riesige Probleme damit. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll.«
»Du solltest einfach das Gleiche tun, was ich damals getan habe, wenn ich wieder mal dachte, ich müsste gleich den Verstand
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