Schenk mir deinen Atem, Engel ...
Seufzend strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich habe ihn ein paarmal erwischt, wie er in meinem Tagebuch geblättert hat, und war deswegen echt wütend auf ihn. Aber inzwischen glaube ich nicht mehr, dass er das gemacht hat, um mich zu ärgern.“
„Sondern?“
Faith dachte an das Gespräch mit ihrer Mutter zurück. Sie hatten zusammen in der Küche gestanden und sich über Will unterhalten. Darüber, dass er nicht wusste, wie er mit Faiths Krankheit umgehen sollte.
„Er wollte herausfinden, was ich denke und fühle“, erwiderte sie. „Und weil ich nie besonders viel darüber rede, hat er sich eine andere Möglichkeit gesucht.“
Jake nickte langsam. „Was sonst noch?“
„Will ist gut in der Schule und er hat eine Menge Freunde. Jeder liebt Will.“ Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über ihre Lippen. „Es ist wirklich so. Eigentlich erstaunlich. Er braucht nur irgendwo aufzutauchen, schon haben die Leute gute Laune. Und obwohl er praktisch noch ein Kind ist, hören selbst Erwachsene ihm zu, wenn er etwas sagt.“
„Mhh-hmm“, machte Jake nachdenklich.
„Soweit ich mich erinnern kann, war er seit seiner Geburt nie auch nur einen Tag krank. Ich hingegen …“ Sie verzog das Gesicht. „Ich war manchmal ganz schön neidisch deswegen. Während ich schon als kleines Mädchen mit der Aussicht klarkommen musste, eines Tages ziemlich jung zu sterben, konnte er fröhlich und unbeschwert leben. Dachte ich jedenfalls. Aber ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wie es wohl für ihn ist, mit einer todkranken Schwester aufzuwachsen. Zu wissen, dass sie noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag sterben wird …“ Ihr versagte die Stimme. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie hatte sie nur so blind sein können, es nicht zu sehen? Armer Will. Und sie hatte es ihm jeden Tag aufs Neue nur noch schwerer gemacht.
Sie blickte auf und lächelte traurig. „Ich hoffe nur, es geht ihm bald wieder gut. Dass er jetzt im Krankenhaus liegt …“
Tröstend legte Jake, der genau zu spüren schien, was in ihr vorging, eine Hand auf ihren linken Arm. „Das ist nicht deine Schuld“, erklärte er sanft. „Die Kreaturen, die deinen Bruder so erschreckt haben, waren nicht hinter dir her.“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Hat Will zufällig eine Narbe oder ein Muttermal in einer ungewöhnlichen Form?“
Faith nickte. „Ja“, erwiderte sie überrascht. „Woher weißt du das? Er hat ein Muttermal an seiner rechten Wade, das aussieht wie ein …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es sieht aus wie ein Engelsflügel.“
Jake nickte. „In einem Punkt kann ich dich jedenfalls beruhigen“, sagte er nach einem kurzen Schweigen.
Sie blickte auf. „Und der wäre?“
„Der Traum, den du hattest. Der, in dem du deinen Bruder erstechen wolltest.“
„Ja?“
„Diesbezüglich brauchst du dir keinerlei Vorwürfe zu machen. Du konntest nämlich nichts dafür, so etwas geträumt zu haben.“
Jetzt verstand Faith endgültig nichts mehr. „Wie … meinst du das?“
„Es war die Gegenseite, die dir das eingeflüstert hat. Eigentlich wollte sie erreichen, dass du das nicht nur träumst, sondern es tatsächlich tust. Sie wollte, dass du deinen Bruder tötest.“
„Aber …“ Faith schluckte. „Warum sollte sie so etwas wollen?“
„Weil er es ist, Faith. Dein Bruder ist die reine Seele.“
Sie fuhren zum Krankenhaus zurück. Jake saß hinter dem Steuer des Wagens und starrte angespannt hinaus in die Dunkelheit. Ebenso wie Faith, die immer noch nicht recht begreifen konnte, was sie erfahren hatte.
Ihr Bruder – Will! – die reine Seele?
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, war es eigentlich gar nicht so abwegig. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Will jemals etwas getan hatte, um einem anderen Menschen zu schaden. Er war offen, ehrlich und gutherzig. Und die Menschen hörten auf ihn.
Waren das nicht die Dinge, die echte Propheten auszeichneten? Mussten sie nicht in der Lage sein, die Massen zu bewegen, sie zu begeistern, um ihnen den rechten Weg weisen zu können?
Sie hatte Will nie auf diese Weise gesehen. Aber jetzt, wo sie darüber nachdachte, erschien es ihr so offensichtlich, dass sie nicht fassen konnte, warum sie es nicht gleich erkannt hatte.
Natürlich. Er war die reine Seele!
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Will …
„Alles in Ordnung?“
Jakes Stimme erschien ihr seltsam laut in der Stille, die nur durchbrochen wurde vom gleichmäßigen Brummen des Motors
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