Schenk mir deinen Atem, Engel ...
und dem Geräusch der Reifen auf dem Asphalt. Nach ihrer Abfahrt vom Güterbahnhof hatte Faith einmal kurz das Radio eingeschaltet, es aber sofort wieder abgestellt, als ein fröhlicher Popsong erklang.
Sie konnte das im Augenblick nicht ertragen. Es war viel zu … normal. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie andere Menschen zu diesem Song tanzten und lachten, wie sie feierten und fröhlich waren – und es drehte ihr den Magen um.
Gab es so etwas wirklich noch? Normalität?
Für sie nicht mehr. Nicht nach allem, was sie gesehen, was sie erlebt hatte. Ebenso wenig für Will.
Sie fragte sich, was nun aus ihm werden würde. Es war eine Sache, für sich selbst zu entscheiden, Jake zu folgen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Sie war so gut wie erwachsen, und ihr blieb ohnehin nicht mehr besonders viel Zeit. Aber Will? Er war erst elf Jahre alt. Noch ein Kind! Er brauchte seine Familie – und Faith wusste, dass ihre Eltern ihn niemals gehen lassen würden.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie und blieb ihm die Antwort auf seine Frage schuldig. Was sollte sie auch sagen? Dass sie sich grauenvoll fühlte? Hilflos? Jetzt, wo es nicht mehr um sie ging, sondern um Will, womöglich noch mehr als je zuvor? „Ich meine, was passiert, wenn wir das Krankenhaus erreichen? Wirst du Will nehmen und mit ihm verschwinden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist absurd! Meine Eltern werden das niemals zulassen!“ Sie schluckte. „Und ich will das auch nicht, hörst du?“
Dieses Mal dauerte es lange, ehe Jake etwas erwiderte. „Es tut mir leid“, sagte er und löste seinen Blick von der Straße, um Faith anzusehen. „Wirklich, ich …“ Er atmete tief durch. „Das läuft alles vollkommen anders als geplant.“ Ein leiser Seufzer entrang sich seiner Kehle. „Ich hätte es merken müssen. Doch von dem Moment an, in dem ich dich zum ersten Mal sah, war ich sicher, dass du es sein musst.“ Er schaute wieder auf die Straße, doch seine Stimme klang abwesend, so, als wäre er gar nicht wirklich da. „Du standest auf der Veranda, dein Haar wehte im Wind, und ich konnte nicht aufhören, dich anzuschauen. Du warst so wunderschön. Und da war dieses Gefühl. Ich habe gespürt, dass sie da ist. Die reine Seele …“
Faith nickte. „Ja – weil Will ebenfalls dort war, nicht wahr? Zwar nicht direkt bei mir auf der Veranda, aber im Inneren des Bungalows.“
Jake brauchte nichts zu sagen. Sie wusste auch so, dass es stimmte.
„Ich habe mich getäuscht.“ Er unterdrückte einen Fluch und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. „Es hätte mir viel früher auffallen müssen, aber ich konnte nur an dich …“
Er verstummte abrupt.
Fragend schaute Faith ihn an. „Was ist mit mir? Was wolltest du gerade sagen?“
„Ich konnte immerzu nur an dich denken“, schloss er leise, beinahe flüsternd.
Seine Worte hingen in der Luft, die vor unterdrückter Anspannung plötzlich zu vibrieren schien.
Faith wusste, wovon er sprach. Sie fühlte es ebenfalls. Da war etwas zwischen ihnen. Eine Verbindung, die sich mit den begrenzten Mitteln der menschlichen Sprache nicht beschreiben ließ. Doch sie existierte. Sie konnte sie fühlen, gerade jetzt, in diesem Augenblick.
„Ich habe noch nie etwas Vergleichbares erlebt“, sagte er. „Und ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas geben könnte – schon gar nicht mit einem Menschen.“
„Du hast nicht sonderlich viel für uns übrig, nicht wahr? Für uns Menschen, meine ich.“ Sie merkte, dass er zögerte, und lachte bitter auf. „Du brauchst dich deswegen nicht mies zu fühlen oder so. Wenn ich darüber nachdenke, sind wir auch nicht unbedingt besonders liebenswert. Ich meine, was will man über eine Spezies, die es darauf anzulegen scheint, sich selbst und den Planeten, auf dem sie lebt, zu zerstören, schon großartig Positives sagen? Aber … Wir sind nicht alle schlecht, Jake. Wir sind vielleicht nicht durch und durch gut, wenn du verstehst, was ich meine. Aber ich glaube, dass es in jedem von uns einen Funken Gutes gibt. Man muss ihn nur entdecken, um ihn zu entzünden.“
Jake nickte langsam. „Ich glaube, das habe ich inzwischen auch begriffen“, erwiderte er. „Du hast mir das gezeigt“, fuhr er fort. „Du ganz allein. Und selbst wenn du nicht die reine Seele bist, hast du es doch geschafft, jemanden aus der Dunkelheit zurück ins Licht zu führen.“ Er schaute sie an, sein Blick war so ernsthaft, dass sie hart schlucken musste. „Mich,
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