Schenkel, Andrea M
wer war schuld? Die kleine Monika! Die hat doch vor Gericht ausgesagt! Immer wieder hat er damals vor Gericht beteuert, dass er unschuldig sei, nichts gemacht habe. Ist dagesessen und hat es wieder und wieder gesagt. Nichts anderes war aus ihm herauszubekommen. Nur: Ich war’s nicht. Keiner hat ihm geglaubt. Da war doch meine Aussage. Die Schwester des Toten lügt doch nicht.
Wenn er unschuldig war, das frisst sich doch ein, Jahr für Jahr. Immer tiefer, und dann kommt der Hass auf denjenigen, der einen unschuldig hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Ist doch logisch! Der wird größer und größer und entlädt sich dann beim ersten Wiedersehen. Plötzlich, bumm! Er lässt mich zappeln! Wer weiß, was er mit mir noch vorhat. Die Prügel, die ich einstecken musste, sind vermutlich nur der Anfang.
Ich muss raus hier.
Vielleicht kann ich doch das Türschloss knacken? Mit dem abgebrochenen Messer.
An der Stelle, bei der beim letzten Versuch der metallene Widerstand auftrat, stößt das Messer diesmal ins Leere. Ich kann es nicht glauben, die Tür ist nicht verschlossen! Hab ich ein Glück. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Alles ganz vorsichtig, nur kein Geräusch! Ich ziehe an der Tür, sie lässt sich einen Spalt öffnen. Ziehen ist einfacher als nach oben Drücken.
Ich verharre einen Augenblick. Die Stiege ist leer, keiner ist im Erdgeschoss zu sehen. Ich bin ganz still, halte den Atem an, lausche. Außer einer zirpenden Grille ist nichts zu hören. Ein kühler Luftzug. Nichts.
Ich ziehe weiter mit aller Kraft, öffne die Tür ganz, lehne sie langsam und vorsichtig an die Wand, ohne jedes Geräusch. Erst mit den Zehenspitzen des linken Fußes auf die erste Stufe, dann langsam den Fuß abrollen, bis ich auf der ganzen Fußsohle stehe. Schritt für Schritt. Ein modriger Geruch steigt mir in die Nase. Nach einigen Stufen bücke ich mich und luge unter dem Türrahmen in den großen Raum. Die Tür am Ende des gemauerten Sims ist ganz geöffnet. An der geöffneten Tür hängt ein kleiner Körper, die Arme gespreizt. Wie von einem Baby. Die Konturen zeichnen sich klar ab, er selbst liegt im Schatten. Ich habe meine Augen weit aufgerissen, starre auf den Leib, nehme die letzten Stufen, ohne den Blick von ihm zu lösen. Ich betrete den Sims. Gehe darauf zu, wage kaum zu atmen. Meine Schritte werden kleiner. Beim Näherkommen nimmt der Körper immer mehr Gestalt an. Keine Haut, nur blassrotes Muskelfleisch ist zu erkennen. Kopf und Füße sind abgetrennt. Ich merke, wie sich mein Hals mehr und mehr zuschnürt, mir wird übel, nur ein Schritt zur Wand, mit den Händen abgestützt, schon kotze ich im Schwall an die Mauer. Ich lasse mich auf den Boden sinken. Einen Meter neben mir steht eine flache Blechwanne. Darin liegen das blutverschmierte graue Fell und der abgetrennte Kopf des Hasen.
Das alles ist so ekelhaft, ich muss schleunigst weg von hier!
Ich rapple mich auf, werfe noch einen Blick auf den gehäuteten Hasen, drehe mich um und laufe zur gegenüberliegenden Tür. Kein Blick nach links, nach rechts. Nur geradeaus. Über die Türschwelle. Die Sonne blendet mich kurz, verschwindet gerade hinter den Baumwipfeln. Über die Holztür. Zuerst vorsichtig, langsam, darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, werde ich nun schneller. Am Teich entlang. Durchs Gestrüpp. Ich renne. Achte nicht auf Ranken, die sich in meiner Bluse verhaken, sie einreißen. Der Weg, nach links oder rechts? Rechts oder links? Wo bin ich aus dem Auto gestiegen, rechts oder links? Verdammt, mein Orientierungssinn! Mach schon, denk nach!
Ich kann mich nicht konzentrieren, ich weiß es nicht. Verdammt! Also dann in irgendeine Richtung. Rechts, links, Kopf oder Zahl. Nach links! Die ersten Meter laufe ich noch, dann geht mir die Puste aus. Ich hab Seitenstechen, stütze mich auf den Knien ab, atme keuchend, hab keine Kraft mehr. Gehe trotzdem weiter und weiter. Es wird immer dunkler. Wenn ich auf meine Schuhe sehe, heben sie sich kaum mehr vom Boden ab. Der Weg wird schmaler, ein Fuhrweg mit zwei ausgefahrenen Spuren. In der Mitte Gras, ich wechsle auf eine der Fahrrinnen. Sie ist mit zerbrochenen Dachschindeln und Steinen verfüllt, die Schritte klingen lauter und heller als auf dem festen Belag. Der Himmel ist kaum bewölkt, fahles Mondlicht, schwarze Büsche am Wegesrand.
Die Nacht ist nie ganz schwarz, durch das Licht des Mondes sehen alle Sträucher aus, als ob ein Tier oder anderes Lebewesen darin steckt oder sich dahinter versteckt.
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