Schenkel, Andrea M
rot lackiert, waren rot lackiert. Die Farbe ist an den Rändern bereits abgesprungen. Etwas mehr von dem roten Nagellack ist noch an den beiden großen Zehen. Links mehr als rechts. Belaste ich beim Laufen den rechten Fuß stärker als den linken? Oder warum sollte hier der Lack mehr in Mitleidenschaft gezogen sein? Vielleicht sitzt der Schuh fester? Die Ränder der roten Flecken sind gezackt, die Farbe knallrot. Die Farbe ist zu grell. Sieht irgendwie billig aus. Und dann auch noch abgeplatzt! Schlampig! Passt gar nicht zu mir. Ein Ton dunkler würde mir besser stehen. Ich müsste mir mal einen anderen Lack zulegen.
Auch meine Fingernägel sind ekelhaft. Schon wieder hat sich ein dunkler Streifen unter den Nagelrändern gebildet. Ich hole das Messer vom Tisch, setze mich wieder auf das Bett. Im Schneidersitz versuche ich, mit dem abgebrochenen Küchenmesser den schwarzbraunen Schmutz und die Lackreste wegzukratzen. Durch die scharfen Bruchkanten klappt es ganz gut: Der Lack lässt sich schön abschaben, springt in kleinen Stückchen ab. Auch den Dreck unter den Nägeln bekomme ich mit dem Messer heraus. Ich fummle an den Zehennägeln herum, bis meine Füße einschlafen und kleine rote Lacksplitter überall auf dem Betttuch verteilt liegen. Was mache ich jetzt mit dem Messer? Wasser zum Abwaschen fehlt. Ich ziehe den Zipfel des Betttuchs an der unteren Kante aus der Matratze hervor und wische das Messer daran ab. Könnte sauber sein. Ich rieche daran, es ist der typische Unter-dem-Nagel-Geruch. Angewidert schubse ich das Messer unters Bett.
Das Essen steht auf dem Tisch wie gestern. Diesmal keine Brötchen, nur vier Scheiben Schwarzbrot. Nicht mal frisch! Eine Sorte Wurst, etwas Käse, keine Marmelade. Die Milch riecht frisch, ein ganzer Liter. Das ist wohl ab jetzt meine Tagesration. Zu wenig für einen ganzen Tag! Aber wen interessiert es? Mit den Fingerspitzen schiebe ich den Teller hin und her. Ich habe keinen Appetit, vielleicht später.
Über den Tisch krabbelt langsam die fette Fliege. Läuft ein kleines Stück, bleibt stehen, läuft weiter, bleibt wieder stehen, putzt sich, läuft weiter. Mit dem Rüssel tastet sie die Oberfläche des Tisches ab, bis sie einen Brotkrümel findet. Sie macht sich über den Krümel her. Ich gehe mit dem Gesicht so nah wie möglich an die Fliege heran, beobachte neugierig, wie sie mit ihrem Rüssel den Krümel abtastet. Die Verdickungen am unteren Ende des Rüssels sehen aus wie Lippen. Sie stülpt die Lippen über den Krümel. Haben Fliegen überhaupt Lippen? Immer wieder zieht sie den Rüssel zurück, um ihn erneut auszufahren. Es scheint sie nicht im Geringsten zu stören, dass ich sie dabei betrachte, ganz nah mit meinem Gesicht an sie heranrücke. Sie ist hier in diesem Raum eingesperrt genau wie ich, sie ist meine Mitgefangene. Hallo Mitgefangene! Was können wir machen, um hier rauszukommen? Du könntest durch die Scheibe, wenn ich sie einschlage, ich nicht. Meine Mitgefangene hat sechs Beine, einen haarigen schwarzen Körper und Riesenaugen. Soweit ich aus dem Biologieunterricht noch weiß, Facettenaugen. Damit sieht sie alles tausendfach, oder auch nicht ganz so oft, ich war in Biologie nie eine Leuchte. Ein unruhiger Geselle. Sie lässt ab von ihrem Brotkrümel und fliegt durch den Raum. Bleibt an der Decke sitzen, läuft ein Stück quer über die Decke. Hebt ab, lässt sich erneut auf dem Tisch nieder. Fängt an sich zu putzen. Eines der vorderen Fliegenbeine fährt ständig über ihre Augen. Die Bewegung wirkt irgendwie abgehackt. Können Fliegen ihre Augen eigentlich bewegen, womöglich in unterschiedliche Richtungen, wie ein Chamäleon? Jetzt streckt sie einen der Flügel. Dabei reckt sie einen Lauf aus, steht nur noch auf fünf Beinen, dann den anderen. Ganz schön beweglich, diese Kleine. Danach hebt sie wieder ab. Sie setzt sich auf meinen Arm. Mit einer kleinen, kaum wahrnehmbaren Bewegung verscheuche ich sie. Sie lässt sich nicht verscheuchen, kommt wieder, setzt sich auf meinen Arm. Du bist ganz schön hartnäckig. Ich halte still, spüre ihre Beinchen auf meiner Haut, ganz leicht. Sie tastet die Haut mit dem Rüssel ab. Leckt mit dem Rüssel das Salz. Das kitzelt. Du beginnst mich zu nerven, kleine Mitgefangene. Ich verscheuche sie, indem ich mit Armen und Händen hin und her fuchtele. Sie stört sich nicht daran, wird immer dreister. Setzt sich sogar mitten in mein Gesicht. So nicht, meine Freundin! Sie hebt wieder ab, zieht ihre Runden. Ich hole das
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