Scherben der Ehre
sie wäre jetzt bei ihm und könnte es auch tun. Sie drückte Daumen und Zeigefinger gegen ihren Nasenrücken und rieb die Spannung fort. »Darf ich jetzt vielleicht heimgehen?«
»Sind da noch eine Menge Leute draußen?«, fragte ihre Mutter.
»Ich fürchte, ja. Wir werden versuchen, sie zurückzuhalten.«
Der Doktor nahm sie auf der einen, ihre Mutter auf der anderen Seite. Auf dem langen Weg zum Bodenwagen ihrer Mutter dachte sie die ganze Zeit an Vorkosigans Kuss. Die Menge drängte sich immer noch um sie, aber in einer stummen, respektvollen, fast eingeschüchterten Weise, in großem Gegensatz zu der vorausgegangenen Feiertagsstimmung. Es tat ihr leid, dass sie ihnen die Party verdorben hatte.
Auch am Schacht zum Appartement ihrer Mutter wartete eine Menschenmenge, im Foyer an den Liftrohren, und sogar im Korridor vor ihrer Tür. Cordelia lächelte und winkte ein bisschen, vorsichtig, aber auf Fragen hin schüttelte sie nur den Kopf, denn sie traute es sich noch nicht zu, zusammenhängend zu sprechen. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menge und schlossen endlich die Tür hinter sich zu.
»Puh! Ich nehme an, sie meinten es gut mit mir, aber mein Gott – ich kam mir vor, als wollten sie mich bei lebendigem Leib auffressen.«
»Es gab soviel Aufregung um den Krieg und das Expeditionskorps – jeder, der eine blaue Uniform trägt, wird wie ein Star behandelt. Und als die Gefangenen nach Hause kamen und deine Geschichte herauskam – ich war froh, dass ich damals wusste, dass es dir gut ging. Mein armer Liebling!«
Cordelia wurde wieder umarmt, und es tat ihr gut.
»Nun, das erklärt, woher sie den Unsinn haben. Das war das wildeste Gerücht. Die Barrayaraner haben es ausgestreut, und alle anderen haben es einfach aufgeschnappt. Ich konnte es nicht verhindern.«
»Was hat man mit dir angestellt?«
»Sie waren immer hinter mir her und haben mich mit diesen Therapieangeboten genervt – sie dachten, die Barrayaraner hätten mein Gedächtnis manipuliert … Oh, ich verstehe. Du meinst, was die Barrayaraner mit mir angestellt haben. Nicht viel. V-Vorrutyer hätte gern, aber er fiel seinem Unfall zum Opfer, bevor er noch halb angefangen hatte.« Sie entschloss sich, ihre Mutter nicht mit den Details zu beunruhigen. »Etwas Wichtiges ist allerdings geschehen.« Sie zögerte.
»Ich bin wieder Aral Vorkosigan begegnet.«
»Diesem schrecklichen Mann? Als ich den Namen in den Nachrichten hörte, fragte ich mich, ob das der gleiche Kerl war, der letztes Jahr deinen Leutnant Rosemont umgebracht hat.«
»Nein. Ja. Ich will sagen, er hat Rosemont nicht umgebracht, einer seiner Leute hat es getan. Aber er ist derselbe Mann.«
»Ich verstehe nicht, warum du soviel für ihn übrig hast.«
»Du solltest ihm jetzt eigentlich dankbar sein. Er hat mein Leben gerettet. Hat mich in seiner Kabine versteckt, während dieser fehlenden zwei Tage, nachdem Vorrutyer getötet worden war. Man hätte mich dafür hingerichtet, wenn man mich vor dem Kommandowechsel gefasst hätte.«
Ihre Mutter blickte mehr beunruhigt als verständnisvoll drein. »Hat er dir – irgend etwas angetan?«
Die Frage war mit einer unbeantwortbaren Ironie belastet. Cordelia wagte es nicht einmal ihrer Mutter von der unerträglichen Last der Wahrheit zu erzählen, die er ihr aufgebürdet hatte. Ihre Mutter interpretierte den gequälten Ausdruck ihres Gesichtes falsch.
»Oh, meine Liebe, das tut mir so leid.«
»Wie? Nein, verdammt. Vorkosigan ist kein Vergewaltiger. Er ist eigen, was Gefangene angeht. Würde nicht einmal einen mit einem Stock anlangen. Er fragte mich …«, sie brach ab und blickte auf das freundliche, besorgte und liebende Gesicht ihrer Mutter. Es war wie eine Wand. »Wir haben eine Menge miteinander geredet. Er ist in Ordnung.«
»Er hat keinen sehr guten Ruf.«
»Ja, ich habe einiges davon im Holovid gesehen. Das sind alles Lügen.«
»Er ist – also kein Mörder?«
»Nun ja …« Cordelia blieb bei der Wahrheit stecken. »Er hat eine Menge Leute g-getötet, nehme ich an. Er ist ein Soldat, weißt du. Das ist sein Beruf. Es lässt sich nicht vermeiden, dass das ein bisschen abfärbt. Ich weiß jedoch nur von drei Fällen, wo es nicht um seine Pflicht ging.«
»Nur drei?«, wiederholte ihre Mutter schwach. Es gab eine Pause. »Er ist also kein Sexualverbrecher?«
»Gewiss nicht! Obwohl ich gehört habe, dass er eine sehr seltsame Phase durchmachte, nachdem seine Frau Selbstmord begangen hatte – ich glaube, er weiß nicht,
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