Scherben: Du tötest mich nicht (German Edition)
etwas sagte oder überhaupt in Erscheinung trat, hatte Vanessa bereits ein ungutes Gefühl. Jonas holte sie mit seinem Auto – sie war vollkommen unwissend gewesen, dass er überhaupt eins besaß – schon bald nach Feierabend von Zuhause ab. Obwohl die Sonne noch lange nicht unte rgegangen war, lag ein Hauch von früher Dämmerung in der Luft. Jonas fuhr mit Vanessa Richtung Süden, und als die Umgebung immer abgeschiedener wurde, wuchsen in ihr Zweifel.
Als sie schließlich an einem Waldrand vor einer alten Lage rhalle hielten, wurde ihr flau im Magen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie eigentlich waren.
»Was machen wir hier? Ich dachte, wir besuchen …«
»Thox wohnt hier«, unterbrach Jonas sie angespannt, und Vanessa biss sich auf die Lippe. Es war ungewöhnlich kühl für einen frühen Abend im Juli, und auf dem Weg zu der umgebauten Haustür schlang sie fröstelnd die Arme um ihren angespannten Körper. Die Haustür wirkte schmucklos und abweisend. Sie war von beiden Seiten von wilden Sträuchern bewachsen, die so unkontrolliert wucherten, dass Vanessa die Tür gar nicht bemerkt hätte, wenn Jonas sie ihr nicht gezeigt hätte. Hier sollte tatsächlich jemand wohnen? Jonas jedenfalls schien davon überzeugt, als er einen versteckten Knopf drückte. Im Inneren der Lagerhalle ertönte das tiefe Summen der Klingel. Vanessas Frösteln wurde heftiger. Es dauerte einen Augenblick, dann waren dumpfe Schritte zu hören, und beinahe ängstlich stellte sich Vanessa in Jonas‘ Schatten. Doch Jonas schien gar nicht zu bemerken, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Wie gebannt fixierte er die Tür vor sich. Als sie schließlich geöffnet wurde, konnte Vanessa zunächst nur das Licht aus dem Raum vor ihr erkennen und blinzelte.
»Ich dachte schon, du kommst nicht«, hörte sie eine marka nte Stimme sagen. Sie war tief – jedoch nicht so tief wie die von Jonas – und verbraucht.
»Ich habe noch keinen deiner Geburtstage vergessen«, an twortete Jonas und betrat ohne weitere Einladung die alte Lagerhalle.
Und dann konnte Vanessa ihn sehen. Den Freund von Jonas. Er sah nicht schlecht aus, etwas abgerissen vielleicht, aber lange nicht so gut wie Jonas. Thox war nur ein wenig größer als er, scheinbar im gleichen Alter und hatte – gemessen an dem Rest seines eher schmächtigen Körpers – ziemlich breite Schultern. Seine Haare waren braun und hatten seit einiger Zeit keine Schere mehr gesehen. Was einst ein solider Haa rschnitt gewesen sein musste, wucherte nun auf seinem Kopf wie das Unkraut vor seiner Tür. Die Farbe seiner Augen konnte Vanessa nicht erkennen. Grün, vielleicht aber auch grau. Jetzt bemerkte auch er Vanessa, nachdem sie hinter Jonas zum Vorschein gekommen war, und blickte finster auf sie herab.
»Wer ist das?«, fragte er Jonas, während er Vanessa ignorie rte.
»Vanessa«, antwortete dieser, griff nach ihrer Hand und zog sie in die Wohnung. Darüber offenbar nicht besonders glüc klich, knallte Thox die Tür zu, und Vanessa zuckte erschrocken zusammen. Augenblicklich war sie von dem Inneren der Lagerhalle abgelenkt - obwohl das Wort ‚Lagerhalle’ es schon lange nicht mehr traf. Die gesamte Innenausstattung war vollständig umgebaut und bewegte sich nun irgendwo zwischen Wohnung und Bar. Im Zentrum des großen Raums, der alleine mindestens hundert Quadratmeter umfasste, befand sich eine gigantische Küche mit einer drei Meter langen Theke. Rechts davon lag eine große Fläche, die schmucklos und kalt geblieben war und offensichtlich als das diente, wofür die ehemalige Halle einst gedacht war: Verschiedene Kisten und vollgestopfte blaue Mülltüten okkupierten diese Hälfte und vermittelten den Eindruck, hier würde niemand wohnen. Mit einer Ausnahme: ein Billardtisch, nicht mehr neu, aber noch gut in Schuss und offenbar in Gebrauch. Kugeln lagen verteilt auf der grünen Oberfläche, und ein Queue lehnte an dem dunklen Holzrahmen. Vermutlich hatten sie Thox gerade bei einem einsamen Spiel gestört.
Links von der Theke bot sich dagegen ein ganz anderes Bild. Abgesehen von dem Bistrotisch an der Wand, den man sonst in amerikanischen Schnellimbissen vorfand, war diese Hälfte der Wohnung beinahe gemütlich. Eine weiße Couchgarnitur stand um einen flachen schwarzen Glastisch mitten im Raum. Doch Vanessa war sich sicher, dass Tisch und Couch nicht genutzt wurden, zumindest wirkten sie so neu und unberührt wie aus einem Möbelkatalog. Es war, als hä tten zwei völlig
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