Scherbenherz - Roman
sprechen«, erklärte Anne. »Sie arbeitet bei Finch & Bartlebury.«
»Selbstverständlich. Wen darf ich melden?«
»Ihre Mutter.«
Die Empfangsdame lächelte gequält. »Ah, ja? Ich rufe gleich durch. Bitte nehmen Sie so lange Platz.« Sie deutete anmutig auf eine Reihe brauner Ledersitzwürfel, die um einen Glastisch mit Illustrierten standen.
Anne setzte sich steif auf einen der Lederwürfel und vermisste augenblicklich schmerzlich eine Rückenlehne. Elegant gekleidete Männer in gestärkten Hemden und Frauen in Schuhen mit schwindelerregend hohen Absätzen patrouillierten an ihr vorüber. Sie alle die typischen stromlinienförmigen Vertreter von Jugend und Glamour. Sie sahen aus wie aus einem Werbespot für Rasiercremes oder Haarshampoo. Anne stellte betreten fest, dass sie noch immer ihre alte, mit Farbe verfleckte Arbeitskleidung trug. Sie versuchte, auf dem Lederwürfel die Beine so elegant wie möglich übereinanderzuschlagen, was sich als schwierig erwies, wollte man nicht das Gleichgewicht verlieren. Sie fühlte sich in der Umgebung ausgesprochen fehl am Platz, fast wie eine gescheckte Hauskatze inmitten eines Rudels eleganter Panther in freier Wildnis.
Allmählich schwante ihr, dass es ein Fehler gewesen war hierherzukommen. Sie hatte wieder einmal viel Lärm um nichts gemacht. Sie sollte sich zusammenreißen, durchatmen, zum Empfang gehen, sagen, dass sie es sich anders überlegt habe und später wiederkommen werde. Dann sollte sie nach Hause fahren und ihren weiteren Tagesablauf nicht durcheinanderbringen. Die Angelegenheit eilte nicht. Sie hatten in der Vergangenheit schon schwierigere Situationen durch schweigende Kompromisse bewältigt und dann weitergemacht wie bisher. Gelegentlich, so sagte sie sich, war Schweigsamkeit die beste Methode.
Anne wollte gerade aufstehen und sich bei dem Rotschopf entschuldigen, als sie Charlotte auf der anderen Seite der Lobby aus dem Lift treten sah. Ihr Herz setzte beim Anblick ihrer Tochter einen Schlag lang aus. Sie war groß gewachsen, wunderschön und doch noch immer unverwechselbar Charlotte, mit ihrem welligen Haar, der steilen Falte über der Nasenwurzel und dem schnellen Gang, der wie immer bedeutete, dass sie zu spät dran war. Und doch hatte sich etwas verändert. Sie strahlte, so überlegte Anne, ein Selbstbewusstsein, eine gewisse Selbstsicherheit aus, die sie an ihrer Tochter nie zuvor bemerkt hatte. Möglich, dass der Eindruck täuschte, weil sie Charlotte zum ersten Mal in ihrem beruflichen Umfeld erlebte. Sie sah einerseits wie ihre Charlotte und andererseits völlig verändert aus. Sie kam ihr – Anne suchte nach dem passenden Wort – irgendwie ungewöhnlich lässig und zielorientiert vor.
Der Unterschied zwischen dieser und der Charlotte, die sie noch vor wenigen Wochen erlebt hatte, war frappierend. Erst jetzt, in der Lobby dieses anonymen Bürohauses, erkannte Anne, wie verzagt Charlotte monatelang gewirkt hatte, wie angespannt ihre Körperhaltung, wie angestrengt ihr Blick gewesen waren, so als habe sie ein Ziel am fernen Horizont gesucht, das unerreichbar schien. Anne blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Warum hatte sie bisher nie gemerkt, wie unglücklich ihre Tochter gewirkt hatte. Weshalb hatte sie nicht gewusst, wie sicher ihr Auftreten sein konnte? Was hatte sich verändert? Ihre Tochter war zum ersten Mal nicht nur hübsch, sondern schön.
»Hallo, Mum.«
»Hallo, Charlotte.« Mehr brachte Anne nicht heraus. Sie stand einfach nur da in ihren farbverschmierten Klamotten, das grau melierte Haar nachlässig mit einem Elastikband zurückgehalten, nur notdürftig geschminkt, und starrte bewundernd auf ihre strahlende Tochter. Wie hatte sie nur ein so wunderbares Wesen hervorgebracht? Charlotte musterte ihre Mutter mit schmalem Mund und ernster Miene.
»Das ist eine Überraschung. Was machst du hier?«
»Ich dachte …« Anne hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. »Ich dachte, ich könnte dich zum Mittagessen einladen. Falls du nicht zu viel zu tun hast.«
»Mum, es ist erst halb zwölf.«
»Dann eben zu einem frühen Mittagessen. Oder einer Tasse Kaffee.« Charlotte wandte den Kopf und sah zur großen Uhr über dem Empfang hinüber. Sie trug ein blasspfirsichfarbenes Seidentop, die kurzen Ärmel über der Schulter leicht angereiht. Anne fiel auf, dass die Ekzeme an ihren Armen abgeheilt waren.
»Also gut«, sagte Charlotte. »Aber um Viertel nach zwölf muss ich wieder zurück sein.«
Charlotte lächelte
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