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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Bionahrung noch Computerspiele. Keiner kleidete die lieben Kleinen in Baumwollklamotten aus fairem Handel oder kutschierte sie in Kindersitzen herum, die auf die Rücksitze von SUVs geschnallt wurden, an deren Heckscheiben dann die scheußlichen dreieckigen gelben Sticker mit der Aufschrift »Baby an Bord« klebten. Und niemand erwartete, dass andere auf Zehenspitzen um einen herumtänzelten und aus allen Poren Dankbarkeit ausschwitzten, weil man die erstaunliche Fähigkeit besaß, Kinder in die Welt zu setzen.
    Sie hätten damals Platz gemacht, damit auch andere zur Abwechslung mal in die Nähe eines Supermarktregals gelangen konnten.
    Annes Wut wurde immer größer, begann gefährliche Formen anzunehmen. Sie war nahe daran, ihr nachzugeben, hatte das schier überwältigende Bedürfnis, handgreiflich zu werden, dieser jungen Frau eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Dann war ihre Wut so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Hilflos wandte sie sich ab, stellte den Einkaufskorb ab und verließ den Laden. Die junge Mutter mit dem Buggy drehte sich träge nach ihr um. In ihren glänzenden Kuhaugen flackerte kurz Verwunderung auf.
    Anne lief eilig zu ihrem Wagen. Die junge Mutter aus dem Bioladen ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie fragte sich, ob das vielleicht gerade ihr Fehler im Umgang mit Charlotte gewesen war. Hatte sie ihr einfach nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt? War sie zu sehr auf Charles fixiert gewesen, noch immer zu sehr in ihn verliebt, zu verzweifelt bemüht, das komplizierte Beziehungsgeflecht zu flicken, das sich vor ihr aufgelöst hatte? War das der Grund, weshalb es geschehen war? War es ihr wichtiger gewesen, die Fassade ihrer Ehe aufrechtzuerhalten, als ihrem einzigen Kind zu helfen?
    Anne hatte Charlotte nie gesagt, dass sie sie liebte. Was nicht bedeutete, dass sie es nicht tat. Sie hatte Charlotte nur nicht verwöhnen wollen. Denn dass eine Mutter ihr Kind liebte, war ihr selbstverständlich erschienen. Es wäre ihr geradezu abartig vorgekommen, auch noch darüber zu reden. Und jetzt war es zu spät. Annes Gefühle waren zu übermächtig, um sie in Worte zu fassen, das jahrzehntelange Schweigen zu brechen. Sie bereute, es Charlotte nicht früher gesagt zu haben. Sie bereute einfach alles.
    Die milden Temperaturen forderten ihren Tribut, als sie sich hinters Steuer setzte. Sie brach in Schweiß aus, der ihr unangenehm über den Rücken und in die kleine Vertiefung am Ende der Wirbelsäule rann.
    Und dann ertappte sie sich dabei, wie sie insgeheim den unaussprechbaren Gedanken aussprach, den sie seit Jahren unterdrückt hatte. Einen Gedanken, der in den hintersten Ecken ihres Bewusstseins lauerte, wie der Schatten eines zum Sprung ansetzenden Tieres. Sollte sie sich mehr nach der Liebe ihres Mannes gesehnt haben als nach der ihres Kindes? Hatte sie die vergangenen dreißig Jahre mit der Jagd nach einem Phantom verbracht, verzweifelt versucht, einen Mann dazu zu bringen, ihre immer verbissener gewordene Liebe zu erwidern, der zu menschlicher Wärme und Herzlichkeit nicht fähig war? War das die Quintessenz ihres Lebens?
    Sie wusste es längst, wusste es in diesen kurz aufflackernden Momenten ungeschminkter Wahrheit, dass Charles sie nie geliebt hatte, nicht wirklich. Als sie jedoch den Schlüssel im Zündschloss drehte, wurde ihr mit Erschaudern ebenfalls klar, dass Charlotte ihre Liebe nie in demselben Maße würde erwidern können. Nicht mehr. Nicht nach allem, das sie getan hatte. Nicht nach alledem, das sie nie gesagt hatte.
    Statt nach Hause zu fahren, lenkte sie ihr Auto automatisch in die Stadt, raste zwischen dröhnenden Lastwagen und schmutzigen weißen Transportern die Cromwell Road entlang. Nach dem rund um die Uhr geöffneten Tesco-Supermarkt, einem riesigen Gebäude aus Glasfiber und Beton, mit stickiger Luft und Neonbeleuchtung, bog sie rechts ab. Hinter den Fenstern schoben Menschen ihre Einkaufswagen, und es sah aus, als würden sie den Laden nie verlassen, sondern lediglich in einer Endlosschleife ihre Kreise ziehen, wie hypnotisiert vom Angebot der Waren und den stumpfen Augen der Kassierer.
    Sie hielt vor einem Klinkerhaus mit grünlich verspiegelten Fensterscheiben an, das zurückgesetzt hinter einem großen Kreisverkehr lag. Sie betrat das Gebäude und ging zum Empfang. Eine beeindruckend üppige Rothaarige begrüßte sie lächelnd. Ihre glänzenden Lippen öffneten sich wie eine saftige Frucht.
    »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich möchte Charlotte Redfern

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