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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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noch immer nicht. Ihre Miene wirkte übertrieben konzentriert und reserviert. Anne kannte diesen Blick. So hatte sie immer bei ihren Hausaufgaben ausgesehen oder wenn sie verärgert war, ohne den Grund nennen zu wollen. Während Charlottes trüben, nachdenklichen Phasen hatte Anne es stets für das Beste gehalten, sie in Ruhe zu lassen. Vielleicht, dachte Anne jetzt, war das ein Fehler gewesen. Vielleicht war ihr diese Distanziertheit als Herzlosigkeit ausgelegt worden.
    Anne streckte spontan den Arm aus und legte eine Hand an Charlottes Wange. Ihre Haut fühlte sich warm und weich unter ihren Fingerkuppen an. Charlotte schien im ersten Moment entsetzt, dann schüttelte sie verlegen Annes Hand ab.
    »Um die Ecke gibt es ein Café, in das wir gehen können«, schlug sie vor, als sei nichts geschehen, und ging in Richtung Tür. Anne folgte ihr, beinahe im Dauerlauf, um mit ihr Schritt halten zu können. Sie wusste nicht, was in Charlotte vorging, warum sie auf die ungewohnte Selbstsicherheit der Tochter so nervös, geradezu eingeschüchtert reagierte.
    Das Café war ein altmodisches Etablissement mit zerkratzten Resopaltischen und einer Schiefertafel, auf der die Tasse Tee für vierzig Cent angeboten wurde. Fast alle Tische waren von großen Männern in Arbeitsoveralls mit Lichtreflektoren besetzt, die ein üppiges Frühstück verzehrten und dabei Ausgaben der Sun durchblätterten. Einige von ihnen schienen Polnisch zu sprechen. Ihre Gespräche wurden von kehligem Gelächter und rollenden R begleitet. Das große Fenster war beschlagen. Hinter der Theke standen ein rundlicher Mann mittleren Alters und eine Frau. Beide trugen Schürzen und nahmen die Bestellungen entgegen.
    »Na, Schätzchen? Was darf’s sein?«, sprach die Frau Charlotte an, die an die Theke trat.
    »Was möchtest du, Mum?«
    »Oh, also …«, Anne geriet in Panik. Sie kam sich dumm vor.
    »Mum?« Charlotte sah sie ungeduldig an.
    »Gibt es hier Kräutertee?«
    Charlotte rollte die Augen. »Nein.«
    »Dann nehme ich einen normalen Schwarztee. Danke. Mit Milch und Zucker.«
    »Der Zucker steht auf dem Tisch«, sagte Charlotte herablassend und deutete flüchtig auf die Zuckerspender aus Glas und Chrom.
    »Stimmt.«
    Anne schlängelte sich vorsichtig zwischen den bulligen Männern und klappernden Stühlen hindurch bis zu einem kleinen freien Tisch in der Ecke. Sie glitt auf einen Stuhl und achtete darauf, die Henkel ihrer Handtasche mit einem Stuhlbein gegen Diebe zu sichern. Sie verschränkte nervös die Hände, während sie wartete, versuchte, keine der klebrig aussehenden Oberflächen zu berühren, und wusste eigentlich nicht mehr, was sie sagen sollte. Ihr Herz flatterte nervös, als Charlotte, sorgfältig zwei Becher Tee in den Händen balancierend, an ihren Tisch kam.
    »Hier, der ist für dich.« Charlotte schob ihr einen Becher zu. Sie verzog noch immer keine Miene.
    »Danke.« Anne trank einen Schluck und verbrannte sich mit der kochend heißen Flüssigkeit prompt den Gaumen. Eine Weile sagte keine von beiden ein Wort.
    »Was willst du eigentlich hier, Mum?«
    Anne hüstelte. »Wir haben uns nicht mehr gesprochen, seit …«
    »Seit ich Mittwoch bei dir gewesen bin.«
    »Ja, genau. Und ich denke, ich wollte …« Sie hielt inne und ließ den Satz in der Schwebe. Sie starrte in ihren Becher mit Tee, hob ihn an die Lippen, so dass sie den dunklen Schattenriss ihres Haaransatzes in der braunen Brühe sehen konnte, während sie trank. Charlotte beobachtete sie kühl, die Arme vor der Brust verschränkt. Einige Sekunden lang konnte Anne den dumpfen Schmerz in ihrer Brust nicht lokalisieren, bis sie merkte, dass sie Angst hatte und dass diese mit einer gehörigen Portion Trauer einherging.
    »Ich schätze …«, begann Anne leise und stockend, so als drücke ihr jemand die Luftröhre zu. Sie konzentrierte den Blick au f ihren Becher mit Tee, vermied es, Charlotte anzusehen. »Ich möchte mich entschuldigen.«
    Erneutes langes Schweigen. Anne kaute auf ihrer Unterlippe, entschlossen, nicht zu weinen. Sie wollte so viel mehr sagen, aber irgendwie schien alle Energie aus ihr gewichen, wie die Luft aus einem undichten Reifen, so dass ihr die Kraft fehlte fortzufahren. Sie schüttete mehr Zucker in den Tee. Das Geräusch der rieselnden Zuckerkörner, die sich in der heißen Flüssigkeit auflösten, war irgendwie beruhigend. Schließlich hob sie den Kopf und sah ihre Tochter an. Sie befürchtete, in ihrem Blick Wut oder Verdammnis oder – noch schlimmer –

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