Scherbenherz - Roman
diesem wünschte Charlotte, sie hätte einen Bruder oder eine Schwester, mit der sie die Bürde teilen könnte, ein Kind von Anne zu sein.
Sie blies stumm die Backen auf, damit ihre Mutter ihr resigniertes Schnauben nicht hören konnte, und nahm sich zusammen. Warum ging sie so wenig auf ihre Mutter ein? Anne brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte. Charlotte wusste es. Charles’ Unfall hatte sie beide völlig unvorbereitet getroffen. Anne wirkte seither wie in Trance. Und Charlotte musste plötzlich an jenen seltsamen Morgen einige Monate zuvor denken, als Anne Charlotte den Verlobungsring geschenkt hatte. Sie hatte diesen Ring bisher noch kein einziges Mal getragen. Allein bei dem Gedanken an diesen leblosen Rubin bekam sie Gänsehaut. Natürlich steckte etwas hinter diesem Geschenk, etwas das mit Charles zu tun hatte; und das konnte kaum etwas Angenehmes gewesen sein. Charlotte richtete sich abrupt auf, beschloss, freundlicher zu sein, geduldiger, williger zuzuhören.
Charlotte klickte mit ihrer Maus den Bildschirm an und verbannte das Dokument, an dem sie arbeitete, auf die untere Bildschirmleiste. Sasha war wieder hinter der Trennwand verschwunden. Ihre Lauschversuche waren offenbar gescheitert. Charlotte konnte sich eines flüchtigen Triumphgefühls nicht erwehren.
»Nein, schon gut, Mum«, antwortete sie. Zumindest fünf Minuten ihrer Zeit konnte sie ihrer Mutter widmen. »Ist nicht allzu dringend.«
»Alles in Ordnung mit dir?«
Charlotte versuchte, nicht allzu genervt zu klingen. Es war immer dasselbe: Je heftiger Charlotte behauptete, alles sei in bester Ordnung, desto misstrauischer wurde Anne. Dann bildete sie sich stets ein, auf der richtigen Fährte zu sein, dass es etwas gab, das Charlotte niemandem eingestehen wollte.
»Ja, alles gut.«
»Du klingst so komisch.«
»Ich sitze hier im Büro, Mum.«
»Ist das wirklich der einzige Grund?«
»Klar doch.«
Am anderen Ende war es still.
»Weißt du, wenn du nicht mit mir reden willst, kannst du das ruhig sagen …« Anne verstummte.
Charlotte hielt den Atem an.
»Darum geht es nicht. Absolut nicht«, stellte sie so heiter und gelassen wie möglich richtig. »Wie geht es dir?«
»Oh, ganz gut. Halte mich wacker. Diese Krankenhausbesuche sind allerdings ziemlich anstrengend. Die Hin- und Herfahrerei ist das Schlimmste. Und natürlich mussten Janet und ich unsere Parisreise stornieren. Der Papierkram kam noch dazu.«
Charlotte spielte mit einer Hand mit dem Telefonkabel. Ihre Gedanken schweiften ab. Ihr Magen knurrte, und sie dachte an die Mittagspause. Vor Kurzem hatte sie ein Restaurant in der Nähe entdeckt, das sie ausprobieren wollte. Es war ein typisches altmodisches Londoner Schnellrestaurant von der Sorte, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, die längst von der Flut von Coffeeshopketten und Bücherkaufhäusern mit Ruhezonen und voluminösen Sitzgelegenheiten hätten verdrängt worden sein müssen. Ihre Hungergefühle begannen sich auf eine Folienkartoffel mit Schmelzkäse und einen billigen Becher starken Tees zu konzentrieren, als sie feststellte, dass ihre Mutter am anderen Ende noch immer auf sie einredete.
»… keine Ahnung, wie die Prognose ist. Ich habe ihm immer gesagt, er solle diesen verdammten Helm aufsetzen. Ständig habe ich ihm in den Ohren gelegen. Aber er war so eigensinnig. Nie hat er auf mich gehört. Eigentlich auf niemanden. Kein einfacher Mensch, dein Vater.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und fügte dann hinzu: »Aber wem sage ich das.«
Einen Moment lang war es still. Die Gespräche mit Anne verliefen stets nach demselben Muster. Gleichgültig, womit sie begannen, sie endeten unweigerlich bei Charles. Charlotte hatte die Nase voll, sich die menschlichen Defizite ihres Vaters anhören zu müssen; teilweise weil sie diese selbst sehr gut kannte und teils weil sie der Meinung war, dass Anne, wenn sie diese tatsächlich als so gravierend empfand, ihn schon vor Jahren hätte verlassen müssen. Es kam Charlotte so vor, als diene diese ständige Analyse von Charles’ Fehlern der Stärkung von Annes Selbstwertgefühl, als werde es dadurch leichter für sie, die eigenen Defizite zu vergessen. Diese permanente kleinliche Aufrechnung von Gefühlen und Verhaltensweisen schien Teil von Annes Persönlichkeit geworden zu sein. Es war beinahe so, als könne sie sich nur in Opposition zu allem und jedem definieren. Und während Anne bemüht war, Charlottes Mitgefühl für alles, was sie ertragen musste,
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