Scherbenherz - Roman
zu gewinnen, war sie im Grunde eine Getriebene, jemand, der das eigene Unglück suchte. Charlotte war ziemlich sicher, dass auch das Leben mit ihrer Mutter kein Zuckerlecken war.
Gegenüber Anne hatte Charlotte diese Vorbehalte nie offen ausgesprochen. Und dennoch schwangen diese bei allem, was sie sagte, unterschwellig mit; sie waren wie ein dunkler Schatten immer präsent, deformierten ihre Worte und verdrehten ihre Sätze so weit, dass ihre wahren Gefühle nie zum Ausdruck kamen. Sie versuchte den aufkommenden Frust zu verdrängen.
»Mum«, begann sie so freundlich wie möglich, »er liegt im Augenblick in einem Krankenhausbett im Koma.«
»Das weiß ich sehr wohl«, entgegnete Anne scharf. »Ich sage ja nur, dass ich anstrengende Tage hinter mir habe.«
»Das ist mir klar. Aber er hat diesen Unfall nicht inszeniert, um dich zu ärgern.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine bedrohliche Stille.
»Wie du meinst«, sagte Anne schließlich gereizt. »Ich hatte natürlich einen Grund, dich anzurufen.«
»Okay.«
»Ich räume das Haus aus. Dabei habe ich entdeckt, dass in deinem alten Zimmer noch Umzugskisten mit deinen Sachen stehen.«
Charlotte dachte an ihr altes Kinderzimmer, an das schma-le Bett in der Ecke mit der blau-rosa gemusterten Bettdecke und an den kleinen Schrank mit Büchern und einem Sammelsurium aus zusammengeflickten Teddybären. Sie hatte den Geruch noch in der Nase: die unverkennbare Mischung aus Lavendelkissen, gespitzten Bleistiften und Toastbroten, die unten in der Küche geröstet wurden. Eine unerklärliche Traurigkeit schnürte ihr die Kehle zu.
»Legst du auf irgendetwas noch besonderen Wert?«, erkundigte sich Anne. »Wenn nicht, bringe ich die Sachen zum Roten Kreuz. Aber vielleicht möchtest du ja einige Dinge behalten.«
Charlotte konzentrierte sich mühsam wieder auf das Gespräch. Sie wusste, dass sie eigentlich entsetzt darüber sein müsste, dass ihre Mutter das Haus ausräumte, während der Vater im Koma lag, zwischen Leben und Tod schwebte. Aber sie war es nicht, nicht wirklich. Anne besaß eine ungewöhnliche Fähigkeit, innerlich auf Distanz zu gehen, und Charlotte wusste nur zu gut, dass jeder Versuch, die kühle Abgeklärtheit zu durchdringen, die ihre Mutter wie ein Panzer umgab, unweigerlich zum Scheitern verurteilt war. Es war ihre Methode, das Leben zu bewältigen. Charlotte hielt die Luft an. Sie fühlte, dass Anne ihr den Fehdehandschuh hinwarf, versuchte, sie aus der Reserve zu locken. Darauf jedoch wollte sie sich auf keinen Fall einlassen.
»Nein, gib nicht alles weg. Ich komme rüber und sortiere die Sachen selbst aus.«
»Wann?«
»Sobald ich Zeit habe.«
»Wäre nett, wenn du mir rechtzeitig Bescheid sagen könntest.«
»Ich rufe dich an«, konterte Charlotte brüsk. »Jetzt muss ich Schluss machen.«
»Ja, natürlich. Ich habe deine Zeit schon lange genug in Anspruch genommen.«
Lass dich nicht darauf ein, dachte Charlotte. Lass dich bloß nicht darauf ein.
»Bye, Mum. War nett, mit dir zu reden.«
»Bye, Charlotte. Sag Bescheid, wann du kommst, ja?«
Anne legte auf. Charlotte saß bewegungslos auf ihrem Stuhl, den Hörer ans Ohr gepresst, und horchte minutenlang auf das beruhigende Leerzeichen.
Der Rest des Tages verging mit einer Folge kleinerer Irritationen. Charlotte stellte fest, dass sich das Unbehagen nicht abschütteln ließ, das das Gespräch mit ihrer Mutter und der Gedanke ausgelöst hatten, dass ihr altes Zuhause von Erinnerungsstücken »befreit« wurde, dass Anne sich auf gewisse Weise auf Charles’ permanente Abwesenheit einrichtete. Sie versuchte vergeblich, sich diese Vorstellung auszureden. Nachdem sie sich aber einmal festgesetzt hatte, schlug sie ihr so sehr aufs Gemüt, dass sie keinen positiven Gedanken mehr fassen konnte.
Auf dem Heimweg beschimpfte sie einen jungen Mann in der U-Bahn, der ihr unabsichtlich auf den Fuß getreten war. Ihre Körpertemperatur schwankte zwischen zu heiß und zu kalt, und als sie die Stufen zum Bahnhof East Putney hinunterlief, fühlte sie sich so kraftlos und schwach, dass sie glaubte, kaum bis zur unteren Plattform zu kommen.
Außerdem graute ihr vor dem bevorstehenden Abend. Sie sollte mit Gabriel eine private Ausstellungseröffnung besuchen. Dabei fühlte sie, wie sie immer reizbarer wurde, ohne etwas dagegen machen zu können.
Charlotte war wild entschlossen, jeden Streit zu vermeiden. Während sie sich zurechtmachte, schloss sie eine ganze Reihe immer alberner werdender
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