Scherbenherz - Roman
Abkommen mit sich ab: Sie versprach, nur zwei Drinks zu sich zu nehmen, jede Beleidigung an sich abgleiten zu lassen, sich abgeklärt und nachdenklich und klug zu verhalten, die Beilegung etwaiger Meinungsverschiedenheiten auf den folgenden Morgen zu verschieben. Sie würde, überlegte sie, während sie Lipgloss auflegte, das nach gebranntem Karamell schmeckte, über allem stehen: über dem lästernden Geflüster, den versteckten Gemeinheiten, der abweisenden Haltung und den vorwurfsvollen Blicken von Gabriels ihr feindlich gesonnenen Freunden. Schließlich wusste sie, Charlotte Redfern, dass er sie über alles liebte.
»Alles andere zählt nicht«, sagte er, als sie in ein Taxi stiegen und er ihre Unsicherheit spürte. »Diese Dinge passieren eben. Daran müssen sich die Leute gewöhnen. Außerdem geht sie das gar nichts an.« Er nahm ihre Hand und zog sie auf seine Seite. Er roch vage nach Zahnpasta. »Ich liebe dich über alles. Das weißt du doch?«
»Ja«, antwortete sie aufrichtig.
Während das Taxi durch Hyde Park Corner zu der Galerie holperte, wo einer seiner Freunde die neue Ausstellung als Kurator betreute, dachte sie über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nach. Sie glaubte jedenfalls, es zu wissen. Auch wenn es lange gedauert hatte, bis sie Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Gabriel und sie kannten sich bereits zwei Jahre, bevor zwischen ihnen der Funke übergesprungen war. Und die meiste Zeit hatten sie mit endlosen Diskussionen darüber verbracht, ob sie ihm je würde vertrauen können. Gabriel war verheiratet, natürlich unglücklich verheiratet gewesen, und hatte seither ein wechselvolles Liebesleben und etliche unüberlegte Flirts hinter sich. Er hatte einige kurze, belanglose Affären mit Blondinen gehabt, die, wie er ihr versicherte, ihm ›nichts bedeutet‹ hätten, lediglich Ausdruck seiner Unzufriedenheit gewesen seien. Angesichts dieses Verhaltens allerdings war Charlotte erst einmal auf Distanz gegangen. Dabei konnte sie jedoch nicht leugnen, sich immer mehr in ihn zu verlieben. Zwei Dinge, die sie nicht miteinander vereinbaren konnte. Objektiv betrachtet gehörte er zu der Sorte von Männern, um die sie instinktiv einen großen Bogen machte. Aber dann warf alles, was er sagte und tat, ihre vermeintlich unumstößlichen Vorurteile über den Haufen. Er war anders als alle anderen. Entwaffnend ehrlich in Bezug auf seine eigenen Fehler und so beständig in seiner Zuneigung zu ihr, dass sie ihm kaum widerstehen und sich unmöglich gegen seine Versprechungen wappnen konnte.
Eigentlich hatten sie spontan aufeinander reagiert, kaum dass sich ihre Hände in der flimmernden Hitze eines Juliabends berührt hatten. Es war das Gefühl gewesen, alles zu wissen, was man voneinander wissen musste. Ein Teil von Charlotte allerdings war skeptisch geblieben. Sie hatte ihrem eigenen Urteilsvermögen nicht getraut, hatte nicht glauben können, dass es wirklich geschah. So viele Jahre hatte sie dieses Gefühl gegenseitigen Erkennens herbeigesehnt, das für sie Liebe bedeutete. Zwischen ihrem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr hatte sie all ihre diesbezüglichen Wünsche auf eine Reihe nicht unbedingt passender Männer projiziert. Die Beziehungen hatten jeweils höchstens zwei Jahre gehalten, denn trotz aller Bemühungen hatte sich nichts von dem, was anfänglich so vielversprechend erschienen war, letztendlich erfüllt.
In der Folge war Charlotte zu der Überzeugung gekommen, dass Liebe die Summe von Kompromissen sei. Eine Tatsache, die alle stillschweigend akzeptierten, ohne je ein Wort darüber zu verlieren. Bei den Hochzeitsfeiern ihrer Freundinnen empfand sie daher einerseits Neid, war andererseits jedoch erstaunt, dass sich einige überhaupt noch auf die Ehe einließen. Mit jeder neuen Hochzeitspredigt über ineinanderwachsende Bäume, mit jeder tränenerstickten Tischrede eines Brautvaters, mit jedem Brauttanz, den Charlotte lächelnd und beifällig abgenickt, mit jedem Konfettiregen, den sie über feuchten Asphalt gestreut hatte, wuchs ihre Überzeugung, dass der Aufwand sinnlos sei.
Ihr Zynismus wurde dabei zu einem ureigenen abgedroschenen Klischee. Als ihre Freundin Susie sie im vergangenen Sommer gebeten hatte, ihre Brautjungfer zu werden, hatte sie trotz all ihrer Vorbehalte zugesagt. Charlotte aß mit ihrer Mutter in einem Restaurant zu Mittag, als Susie anrief. Und seltsamerweise entpuppte sich Anne in diesem Punkt überraschend als Verbündete.
»Wieder eine Hochzeit?«, fragte Anne, als
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