Scherbenherz - Roman
Charlotte ihr Handy wieder in die Handtasche steckte.
»Sieht so aus«, antwortete sie und stieß die Gabel in eine Spargelstange. »Ich brauche wieder mal ein Brautjungfernkleid. Wie ich Susie kenne, wird’s diesmal zitronengelber Taft.«
Anne lächelte humorlos. »Ist nur eine Phase. Zwischen zwanzig und dreißig scheint die ganze Welt zu heiraten. Aber auch das geht vorüber.« Sie trank einen Schluck Wein und sah Charlotte von der Seite an. »Kein Grund, was zu überstürzen, weißt du.«
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt heiraten möchte«, bemerkte Charlotte vage. »Die aufgeblasene, romantische Inszenierung von Hochzeiten hält sowieso nicht, was sie verspricht.«
Sie erwartete den Widerspruch ihrer Mutter, wünschte sich beinahe, sie würde ihrem Pessimismus widersprechen. Anne blieb jedoch stumm, drehte den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern, den Blick über den Brotkorb hinweg in die Ferne gerichtet.
»Ich glaube nicht, dass es eine Seelenverwandtschaft zwischen Mann und Frau wirklich gibt«, fuhr Charlotte fort. »Die Ehe ist für mich nichts als eine wechselseitige Abwicklung von Mängeln.«
»Du meine Güte, Charlotte, wo hast du das denn gelesen?«
»Nirgends. Ist mir gerade eingefallen.«
Anne seufzte und zog die Augenbrauen hoch, wie sie das immer tat, wenn sie etwas missbilligte, jedoch den Grund nicht verraten wollte.
»Wahre Liebe gibt’s also nicht?«
Charlotte schob Gabel und Messer auf ihrem Teller zusammen, bevor sie antwortete. Sie spürte, dass verborgene Fußangeln unter der Oberfläche dieses Gesprächs lauerten, wusste jedoch nicht recht, weshalb. »Ich glaube nicht«, erwiderte sie vorsichtig. »Ich glaube, es ist hauptsächlich eine Frage, den Mann zu finden, den man mag, der vertrauenswürdig und gut zu einem ist und zu dem man eine gegenseitige Zuneigung entwickeln kann. Liebe verbraucht sich. Damit sollte man sich von Anfang an abfinden.«
Anne sah sie an. Ihre Miene war abweisend und verschlossen wie die einer Fremden. »Tja«, murmelte sie schließlich. »Ist vermutlich gut, dass du realistischere Erwartungen hast als ich damals.« Anne leerte ihr Weinglas. »Lass uns zahlen!«, fügte sie munter hinzu.
Aber dann hatte Charlotte Gabriel getroffen. Sie erinnerte sich, gleich so eine Ahnung gehabt zu haben, dass er für sie wichtig werden würde. Zuerst war alles rein beruflich. Gabriel war Leiter einer kleinen, aber feinen Literaturagentur, und Charlotte war für die Public Relations eines Buchpreises zuständig, der von der Agentur gesponsert wurde. Dann allerdings entwickelte sich aus einem Drink nach Büroschluss ein abendfüllender amüsanter Gesprächsmarathon. Beide wären eigentlich auf Partys eingeladen gewesen. Beide sagten ihre Veranstaltungen ab. Charlotte war von Gabriels Selbstbewusstsein und seinem Charme fasziniert, von der Art seiner Körperhaltung, von der Lässigkeit, mit der er seinen auffällig gut geschnittenen Anzug über dem dünnen grünen Kaschmirpullover und der Strickkrawatte trug. Sein Äußeres wirkte wie eine Mischung aus Akademiker und Werber, und sie ertappte sich bei dem Wunsch, ihm durch sein samtiges, dichtes Haar zu fahren, das sich im Nacken knapp über seinem Hemdkragen wellte.
Beim Sprechen hatte er die nervöse Angewohnheit, ständig seine Brille mit dem Schildpattgestell auf der Nase zurechtzurücken. Er hatte grünbraune Augen und etwas zu volle, fast mädchenhafte Lippen, eine Kombination, die bei ihm dennoch harmonisch wirkte. Er war ein Mann, nach dem sich die Frauen auf der Straße umdrehten: groß und breitschultrig und voller dynamischer Energie, von der man sich in seiner Nähe unmittelbar angesteckt fühlte.
Charlotte befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer festen Verbindung mit einem ausgesprochen anständigen Mann, den sie sehr mochte, für den sie jedoch keinen Funken Leidenschaft empfand. Gabriel schien die Möglichkeit einer Alternative zu versprechen. Allerdings tat sich in puncto Sex trotz der knisternden Atmosphäre lange nichts zwischen den beiden.
Trotzdem fühlte sich Charlotte zu Gabriel unweigerlich hingezogen, spürte, dass er der Mann ihrer Träume sein könnte, und war gleichzeitig entsetzt über ihre virtuelle Untreue. Dabei erinnerte sie sich an die Frage, die ihr Englischlehrer einst gestellt hatte, als sie Edith Whartons Zeit der Unschuld im Unterricht gelesen hatten: ›Was ist der Unterschied zwischen körperlicher und gedanklicher Untreue? Und welche wiegt letztendlich
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