Scherbenherz - Roman
pflegebedürftig gehalten, und es amüsierte sie, dass Frieda sich derart hartnäckig darum sorgte. Bei ihrer Beziehung mit Charles spielte das keine Rolle. Er bat sie nie um ihre Meinung, und das störte sie nicht. Er war der Intellektuelle. Sie hielt sich an das Praktische. Er holte sich seine geistige Anregung woanders – bei seinen Freunden, seinen Büchern, seinen Tutoren. Sie war für sein emotionales Wohlbefinden zuständig. Und das war, so glaubte Anne, die Basis für eine dauerhafte und erfüllte Partnerschaft. Anne war zufrieden damit, nicht allzu viele Gedanken an irgendwelche Dinge verschwenden zu müssen. Aber wie sollte sie das Frieda erklären, ohne sich selbst herabzusetzen? Anne wusste, Frieda wäre entsetzt, wenn sie zugab, mit Freude nichts anderes als Charles’ Ehefrau sein zu wollen.
»Mein Diplom kann mir keiner mehr nehmen, Frieda. Damit kann ich auch später noch was anfangen. Aber im Moment möchte ich eigentlich nur für Charles da sein. Ich wünsche mir diese Ehe. Ich möchte seine Frau werden. Ich liebe ihn.«
Frieda seufzte. »Und er? Liebt er dich auch?«
Anne sah sie scharf an. »Natürlich tut er das.«
»Anne, ich sage das nicht, weil ich dich kränken will. Ich sage das deinetwillen.« Von einer Schar Mädchen an der Tür hallte schrilles Gelächter zu ihnen herüber. Frieda senkte die Stimme. »Ich sage das, weil es dir niemand sonst sagen wird. Niemand sonst ist so offen oder ehrlich. Niemand hat dazu den nötigen Mumm. Charles ist nicht der richtige Mann für dich.«
Anne begann ihr Tablett zusammenzuräumen, wollte so schnell wie möglich die Mensa verlassen. Wie kann sie es wagen, dachte Anne. Wie kann diese seltsame, aberwitzige Person hier sitzen und sich derart widerwärtig aufführen? Und alles nur, weil sie sich für haushoch überlegen, so viel klüger, so viel interessanter hält. Sie erträgt den Gedanken nicht, dass auch eine andere Fraue von einem begehrenswerten Mann begehrt wird. Sie ist eifersüchtig.
»Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte Frieda, als habe sie Annes Gedanken gelesen. Sie legte die Hand sanft auf Annes Schulter und drückte sie auf den Stuhl zurück. »Ich warne dich, Anne: Dieser Mann ist zügellos … verdorben.«
Anne sprang so abrupt auf, dass der Luftzug die zerzupfte Serviette in Friedas Schoß wehte. Dann stolzierte sie davon. Das Klicken ihrer Absätze hallte wie Pistolenschüsse durch die Mensa. Niemand sah ihr an, wie wütend sie war. Sie stellte ihr Tablett wortlos zum Abräumen in das entsprechende Regal, winkte betont auffällig einem Mädchen aus ihrem Tutorium zu. Sie sah, dass Frieda sie noch immer unverwandt anstarrte, der Blick ungerührt, die Augen dunkel, wie das Schwarz japanischer Lackschachteln. Während Anne aus der Mensa marschierte, strich sie sich eine Locke aus der Stirn. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Hand. Ihre Handflächen waren feucht.
Charlotte
S chließlich und endlich rief sie Gabriel an. Es kam einer Kapitulation gleich. Zumindest hatte sie eine Nacht und einen ganzen Tag gewartet. Aber der Gedanke, das ganze Elend eine weitere Nacht mit ins Bett nehmen müssen, war unerträglich.
Sie zögerte es so lange wie möglich hinaus, nur um zu sehen, ob er doch noch den ersten Schritt tat. Als sie vom Krankenhaus zurück nach Hause kam, ließ sie sich ein Bad ein. Das Wasser allerdings war zu heiß, um entspannend zu wirken. Trotzdem verlangte es sie danach, das Prickeln der Hitze auf ihrer Haut zu fühlen, sich zu beweisen, dass noch Leben in ihr war. Sie atmete dicke Dampfschwaden ein, um Hals und Nebenhöhlen zu reinigen. Wasser platschte auf die Badematte und den Fußboden, als sie Arme und Beine mit einem rauen Schwamm bearbeitete, der an den Rändern bereits schwarzen Schimmel angesetzt hatte.
Dann lehnte sie sich gegen die glatte emaillierte Oberfläche der Wanne und schloss die Augen. Ihr Haar klebte glänzend und feucht an ihrem Kopf. Es roch etwas nach Eukalyptus. Dennoch gelang es ihr nicht, die Gedanken an den bevorstehenden Anruf oder die unterschwelligen Schuldgefühle zu verdrängen, die die Szene mit ihrer Mutter in der Klinik bei ihr zurückgelassen hatte. Sie griff nach dem Magazin, das sie als Beilage der Wochenendausgabe ihrer Zeitung bekommen hatte. Etliche planlose Minuten lang vertiefte sich Charlotte in einen Artikel über die neue Hosenmode und ein Feature mit dem Titel »Stalking – mein zukünftiger Mann verfolgte mich«. Das glänzende Papier wellte sich in der dampfigen
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