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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Bewerbung in Cambridge knallhart abgelehnt, obwohl ihre Noten gut genug gewesen wären.
    »Willst du denn nicht nach Cambridge?«, hatte Anne verständnislos gefragt.
    »Nein, Mum. Warum sollte ich ausgerechnet auf deinen und Dads Spuren wandeln?«
    »Wäre doch nicht dasselbe«, entgegnete sie. »Du kannst deiner eigenen Wege gehen. Ist eine großartige Chance, Charlotte, und später bereust du vielleicht …«
    »Nein!«, würgte Charlotte sie ab. »Ich will nicht dorthin, wo ihr, wo du und Dad gewesen seid.«
    Und damit war das Thema erledigt. Charlotte ging schließlich nach Leeds, machte dort ein lächerliches Diplom in Medienwissenschaften, das völlig nutzlos zu sein schien.
    Der Zug verließ den Bahnhof King’s Cross, und der regennasse Bahnsteig verlor sich in Reihenhaussiedlungen mit geteerten Weidezäunen entlang der Bahnlinie. Anne fragte sich träge, ob der Currant Bun Coffeeshop wohl noch existierte, wo sie frisch verliebt so viele glückliche Stunden beim Tee mit Charles verbracht hatte. Und die kleine, versteckt gelegene schummrige Kneipe in der Nähe von Jesus Green, wo sie sich, ohne es richtig zu merken, an einem Samstagnachmittag betrunken hatten. Und die Weiden von Grantchester, wo er ihr den Antrag gemacht hatte, auch wenn sie zweifelte, dass die Zeit für einen Ausflug dorthin ausreichen würde.
    Anne war in Gedanken versunken, als der Wagen mit Getränken den Gang entlangratterte. Sie kaufte eine überteuerte Flasche stilles Wasser und spendierte Janet einen Becher heiße Schokolade. In einem Anfall von Überschwang bestellte sie noch in letzter Minute eine Packung Shortbread-Kekse, so dass von ihrer Zehnpfundnote kaum Wechselgeld übrig blieb. Sie öffnete die Kekspackung und bot sie Janet an, die sich mit einem glücklichen Lächeln bedankte.
    »Ja, gern«, sagte sie und stippte ihren Keks in den dampfenden Plastikbecher. »Köstlich!«
    »Warum sollen wir uns nicht auch mal was gönnen«, bemerkte Anne ungewohnt ausgelassen.
    Janet strahlte. Anne fühlte sich, wenn auch nicht direkt glücklich, so doch gut. Wie ein guter Mensch.
    Als sie in Cambridge ankamen, war nichts mehr, wie es gewesen war. Aus dem Currant Bun war ein Starbucks Café geworden, in dem sich Touristen in Regenjacken und Rucksäcken drängten und sich lautstark über ihre Reiseführer austauschten. Die Kneipe gab es zwar noch, doch die Türe war verschlossen, eines der Fenster eingeschlagen und notdürftig mit schmutzigem Klebeband geflickt. Als sie zum Newnham College kamen und Anne Janet ihr altes Zimmer zeigen wollte, verweigerte ihnen der Portier – ein unfreundlicher Mann mit kleinen, harten Augen und fleischigem, über den Hemdkragen quillendem Hals – den Zutritt mit der Begründung, Anne könne sich nicht als Ehemalige ausweisen. Sie musste sich daher damit begnügen, von der Straße aus auf das entsprechende Fenster zu zeigen, wobei sie selbst nicht mehr sicher sagen konnte, welches zu ihrem Zimmer gehört hatte. Das spielte jedoch keine Rolle, denn Janet schien an ihrer Rätselraterei nur mäßig interessiert.
    Dann fing es an zu regnen. Zuerst war es nur ein Nieseln, das immer dichter wurde und ihre ältlichen Gesichter mit einem feuchten Film überzog. Sie hatten eigentlich vorgehabt, zu den »Backs« zu gehen, der berühmten Gartenlandschaft, die zu den einzelnen Colleges gehörte, ließen den Plan jedoch schnell fallen, als das Wetter sich weiter verschlechterte.
    »Suchen wir uns ein schnuckeliges Lokal zum Mittagessen«, schlug Janet vor und zog den Reißverschluss ihres leichten Regenmantels hoch.
    »In Ordnung«, sagte Anne und ärgerte sich sowohl über das Wetter als auch über den Ausdruck »schnuckelig«, den sie geradezu hasste.
    Damit stapften sie zurück zur King’s Parade, doch jedes Lokal oder Café dort schien hinter beschlagenen Scheiben vollkommen überfüllt. Vor der wenig verlockend aussehenden Filiale einer italienischen Restaurantkette hatte sich unter der vor Nässe triefenden Markise eine Schlange verloren aussehender Kunden gebildet.
    »Wie lange muss man hier auf einen freien Tisch warten?«, fragte Anne einen jungen Ober mit Brillantohrring und rasiertem Schädel.
    »Keine Ahnung. Eine halbe Stunde vielleicht. Eher weniger. Wir sind voll.«
    »Ja«, sagte Anne kurz angebunden. »Das sehe ich auch.«
    Anne und Janet kam es so vor, als wanderten sie danach stundenlang umher, während die Mutlosigkeit immer engere Kreise um sie zog. Selbst Janets notorisch gute Laune begann

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