Scherbenherz - Roman
festes Schuhwerk trug. Das schrille Summen ihrer Hörgeräte erfüllte das Theater wie die Schwingungen einer vibrierenden Stimmgabel.
Einige Minuten, bevor das Licht gedimmt wurde, sah Anne sich um und war plötzlich entsetzt bei dem Gedanken, dass sie zu diesem Publikum dazugehören sollte. Sie fragte sich flüchtig, ob sie für Außenstehende tatsächlich so alt aussah, wo sie sich doch eigentlich noch relativ jung fühlte. Allerdings wollte sie auf keinen Fall zu der Sorte Frauen gezählt werden, die nicht merken, dass sie sich nicht ihrem Alter entsprechend kleiden – die Sorte, die stolz darauf ist, noch in das Outfit der Tochter zu passen, oder die das Haar etwas zu lange trägt, ohne zu bedenken, dass es dann strähniger und dünner wirkt.
In den letzten Jahren hatte Anne mit wachsender Sorge beobachtet, dass das Fleisch ihrer Oberarme schlaff zu werden begann, wie eine knittrige Plastiktüte vom Knochen hing und bei jeder Bewegung von rechts nach links wabbelte. Sie war daher dazu übergegangen, längere Ärmel zu tragen und ihre Gestik zurückhaltender zu gestalten. Obwohl Anne diese Veränderungen als dramatisch empfunden hatte, schien sie außer ihr niemand zu bemerken, was sie noch mehr deprimierte.
So wurde ihr allmählich klar, dass sie als Frau ein Alter erreicht hatte, in dem kaum noch jemand sie eines Blickes würdigte. Charles hatte schon vor vielen Jahren aufgehört, sie auf diese gewisse Weise anzusehen. Dennoch war es die Reaktion Außenstehender, die sie besonders traf: die des Handwerkers, der nicht mehr leise durch die Zähne pfiff, oder des Postboten, der ihr nicht mehr zublinzelte. Sie musste erleben, dass sie sich nicht mehr wie früher mit einem kleinen Flirt ein Upgrade ihres Flugtickets beschaffen oder einen Strafzettel vermeiden konnte. Dabei waren diese gedankenlosen Menschen nicht einmal unhöflich. Sie hatten schlicht aufgehört, sie als sexuelles Wesen wahrzunehmen. Für sie sah sie würdevoll, arriviert, alt aus. An guten Tagen konnte sie sorgfältig gekleidet durchaus attraktiv, sogar hübsch aussehen, allerdings nur mit dem Zusatz »für ihr Alter«. Sie war nicht begehrenswert. Nicht mehr.
Es war ein trostloser Abend. Richard Vickers kam auf die Bühne und wurde mit freundlichem Applaus empfangen, worauf er mit den Fingern seiner linken Hand tuntenhaft ins Publikum winkte. In seiner Rechten hielt er ein Mikrofon. »Danke! Ich danke Ihnen«, hauchte er mit rauer Stimme, während die Scheinwerfer einen Hauch von Puder und Haarspray erfassten. Er ging zu einem Barhocker aus Stahlrohr, schwang sich auf den Sitz und schlug prüde die Beine übereinander, bevor er zu einer Endlosnummer mäßig unterhaltsamer Anekdoten ansetzte. Er trug, wie Anne bemerkte, Slipper, etwas, das sie bei Männern stets misstrauisch gemacht hatte, und einen zweireihigen Blazer mit altmodischen Messingknöpfen und einem abgeschmackten lachsrosa Einstecktuch in der Brusttasche. Er sah aus wie ein alternder Golfer, dachte Anne verächtlich, ein Mann, dessen Inbegriff von Glück ein zweiwöchiger Aufenthalt au f Teneriffa war.
Die Leute um sie herum lachten wohlwollend. Janet hatte permanent ein glattes, maskenhaftes Lächeln aufgesetzt und klatschte gelegentlich gedämpft, sobald ihr eine Pointe gefiel. Schließlich ging Vickers zu einem lahmen Frage-und-Antwort-Spiel über, bei dem Gäste aus dem Publikum ehrerbietig Fragen darüber stellten, wie »Soundso im wirklichen Leben« sei oder ob er »das und das« als den Höhepunkt seiner Karriere betrachte. Schließlich war die Veranstaltung gnädigerweise zu Ende, und sie drängten sich hinaus in die feuchte Abendluft.
Im Zug – sie saßen sich an einem Tisch gegenüber, den Janet natürlich vorsorglich reserviert hatte – sah Janet Anne vorsichtig erwartungsvoll an.
»Hat’s dir gefallen, Anne?«
»Ja, natürlich«, antwortete sie nicht ganz aufrichtig.
»Freut mich.« Und nach kurzem Zögern: »Ich hoffe … also ich hoffe wirklich, es hat dich abgelenkt.« Janet verstummte.
»Im Augenblick ist es schwierig für mich, Ablenkung zu finden«, sagte Anne.
»Das kann ich mir denken.« Es entstand erneut eine bedeutungsvolle Pause, bis sich Janet zu einer weiteren Bemerkung aufraffte. »Muss schön für dich sein, Charlotte jetzt öfter um dich zu haben.«
Anne schnaubte verächtlich. »Schön ist das nicht unbedingt. Wäre besser, ihre Anwesenheit wäre gar nicht erst nötig … wäre besser, Charles müsste nicht da liegen und um sein Leben
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