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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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ihr fast wie eine Kapitulation, die sie sich nicht eingestehen wollte. Als sie das Gespräch wiederaufnahm, gab sie sich bewusst unbekümmert.
    »Also gut, Janet. Ich komme gern mit.«
    Auf der anderen Tischseite ertönte ein freudiges Jauchzen.
    »Danke, dass du an mich gedacht hast«, fügte Anne hinzu, obwohl sie wusste, dass es niemand sonst gab, den Janet hätte zuerst fragen können.
    »Das ist einfach klasse«, sagte Janet, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, den Teebecher fest in beiden Händen, die Schultern unter der formlosen Strickware entspannt. Sie trank einen Schluck Tee. Anne sah das glückliche Glitzern in ihren Augen. Sie war gerührt. Wie schön, dachte Anne, wenn man über etwas so Unwichtiges so glücklich sein konnte. Wie rührend, dass Janet diesen winzigen Fetzen Freundschaft so hoch schätzte. Sie hätte alles gegeben, um diesen unkomplizierten Optimismus, diesen unerschütterlichen Glauben an das Leben teilen zu können. Früher war das einmal anders gewesen, dachte Anne und schenkte Janet aus der tröpfelnden Kanne Tee nach. Sie fragte sich, wie es hatte geschehen können, dass sie sich innerlich so ausgetrocknet fühlte.
    Dabei kam ihr seltsamerweise der Wortlaut eines Gebets in den Sinn, das sie während ihres Konfirmationsunterrichts gelernt hatte. Es ging um Gläubige, »die es nicht wert sind, die Brosamen unter dem Tisch Gottes zu essen«. Diese Worte hatten sich der fünfzehnjährigen Anne damals unauslöschlich eingeprägt. Sie hatte sich eine mächtige Gottfigur vorgestellt, einen Mann, der an einem großen polierten Esstisch mit einem Schäferstab in der einen Hand saß, während er mit der anderen das Brot brach. Und die Brosamen, die dabei auf den Boden fielen, wurden dann von einer Horde begeisterter Zwerge aufgesammelt, die wie Ameisen auf einer Honigspur übereinanderkrochen.
    Anne hatte gelegentlich den Eindruck, dass auch sie die Brosamen ihrer Zuneigung über dem Boden verteilte, wo sie dann von Janet mit der üblichen mitleiderregenden Dankbarkeit aufgesammelt wurden. Anne empfand bei diesen Gedanken gelegentlich ein schlechtes Gewissen. Dennoch genoss sie in Janets Gegenwart ein nie zuvor erlebtes Gefühl von Macht. Überall sonst glaubte Anne von anderen beherrscht zu werden – von Charles’ herrischer Art, von Charlottes kalkulierender Reserviertheit, von Verkäuferinnen und Busfahrern und Parkwächtern, die in ihr nur eine grauhaarige Hausfrau sahen, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte. Ihre Liebe und Zuneigung waren ihrer Meinung nach nie in gleichem Maß erwidert worden. Und mittlerweile war es zu spät, um das noch zu ändern.
    Bei Janet war Anne die Stärkere, das wusste sie und das nutzte sie aus. Anne wusste, dass Janets Zuneigung für sie stärker war, als das, was sie für Janet empfand. Nachdem sie ein Leben lang Liebe ausgeteilt hatte, nur um vom Empfänger ihres jeweiligen Vertrauens verachtet, abgelehnt oder geknechtet zu werden, war es durchaus eine Wohltat, einmal auf der anderen Seite zu stehen. Sie sah darin keine Grausamkeit, sondern eher einen gerechten Ausgleich. Sie mochte Janet, wenn auch mit Einschränkungen, und sie wusste, dass Janet sie ebenfalls mochte und ihre Freundschaft genoss. Solange das so blieb, konnte sie nichts Schlechtes an ihrer Verhaltensweise finden. Schließlich hatten beide einen Gewinn davon, nicht wahr?
    Also fuhren sie nach Cambridge, nahmen den Schnellzug von King’s Cross aus um 9.15 an einem Samstagmorgen. Es war das erste Mal, dass Anne in ihre Universitätsstadt zurückkehrte, abgesehen von einem Ehemaligentreffen des Newnham College vor fünfzehn Jahren, das mehr versprochen als es letztendlich gehalten hatte. Anne hatte all ihre Hoffnungen darauf gesetzt, sich schick anzuziehen und die altbekannten Gesichter mit Charlottes akademischen Erfolgen und dem häuslichen Glück mit Charles zu beeindrucken, doch dann war kaum jemand gekommen, den sie kannte. Schließlich landete sie neben einer sauertöpfischen Frau, die irgendeinen tödlich langweiligen Job bei einer Importfirma für Mehl hatte und nur zwei Gesprächsthemen kannte: die Unberechenbarkeit des Mehlmarktes in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und die spektakulärsten Wanderrouten dieser Welt.
    Diesmal allerdings freute sich Anne darauf, Janet ihre alte Wirkungsstätte zu zeigen. Als Charlotte sich um einen Studienplatz beworben hatte, hatte Anne sehnsüchtig gehofft, sie würde sich für Cambridge entscheiden. Aber Charlotte hatte eine

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