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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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allmählich, au f Talfahrt zu gehen.
    »Ich würde was drum geben, mich irgendwohin setzen zu können«, gestand Janet sehnsüchtig, als sie wieder an einer schmuddeligen, aber voll besetzten Kneipe vorbeikamen.
    Schließlich gaben sie sich geschlagen, kehrten zum Italiener zurück und reihten sich in die Schlange der Wartenden ein. Der Ober, mit dem Anne zuvor gesprochen hatte, erschien mit einem Notizblock an ihrer Seite.
    »Na, wieder zurück?«, bemerkte er mit unverschämtem Grinsen.
    »Wie man sieht«, sagte Anne.
    »Okay. Ihre Wartezeit beträgt fünfundvierzig Minuten. Ihr Name?«
    »Eine Dreiviertelstunde?«, sagte Anne ungläubig mit lauter Stimme. »Sie haben von einer halben Stunde gesprochen.«
    Der Ober starrte sie finster an. Janet legte Anne sanft die Hand auf den Arm. »Der junge Mann hier kann sicher nichts dafür«, erklärte sie und lächelte übertrieben liebenswürdig, was Anne nur noch ärgerlicher machte. »Ich bin Janet, und wir warten gern auf den nächsten freien Tisch.«
    Der Ober schnaubte verächtlich. »Janet. Und wie schreibt man das?«
    Anne stöhnte und schüttelte Janets Hand ab. Janet buchstabierte ihren Namen mit übertriebener Sorgfalt und Höflichkeit. Der Ober verschwand wieder und ließ die beiden theatralisch schweigenden Frauen allein.
    »So, das hätten wir«, erklärte Janet schließlich, als hätte sie gerade ein Kind mit einem Pflaster verarztet. »Halb so schlimm.«
    »Wie schön für dich.«
    Janet lächelte zufrieden ins Leere und begann eine Melodie zu summen. Die Schlange rückte schneller vorwärts als erwartet, und bald saßen die beiden beengt an einem Ecktisch neben der Tür, so dass sie jedes Mal ein eisiger Luftzug umwehte, wenn wieder ein Gast hereinkam.
    »Teilen wir uns eine Portion Bruschetta?«, fragte Janet und setzte ihre Lesebrille auf.
    »Das spricht man ›Brus-ketta‹ aus, wenn mich nicht alles täuscht.«
    »Oh!«, entfuhr es Janet, und ihre Mundwinkel zuckten leicht. »Entschuldige.« Janet konzentrierte sich stoisch auf die Speisekarte, die Zungenspitze zwischen den dünnen Lippen. Sie summte noch immer, als der Ober kam, um die Bestellung entgegenzunehmen. Anne übersprang absichtlich die Vorspeisen und bestellte Pasta mit Basilikumpesto. Sie fing Janets Blick auf. Janet schien momentan sprachlos, dass Anne das einfachste Gericht auf der Karte gewählt und offenbar vergessen hatte, dass der Tag »etwas Besonderes« sein sollte.
    »Ich nehme dasselbe«, erklärte Janet kleinlaut, klappte die Speisekarte zu und überreichte sie dem Ober mit einem liebenswürdigen Kopfnicken. Die Pasta entpuppte sich, als sie kam, wider Erwarten als ausgesprochen köstlich.
    »Sie scheinen hier einen Italiener als Koch zu haben. Das Personal allerdings ist eindeutig englisch«, sagte Janet. An einem ihrer Schneidezähne klebte verschmierter Lippenstift.
    »Einen anständigen Teller Nudeln bringt ja wohl noch jeder zusammen«, bemerkte Anne in schärferem Ton als be-absichtigt. Sie fügte daher versöhnlicher hinzu: »Aber die Pasta war wirklich gut.«
    Anne kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass sie bei ihren Dialogen eher reagierten als agierten, eine vernünftige Unterhaltung kam auf die Weise jedenfalls nicht zustande. Sie schienen sich ständig misszuverstehen, Dinge falsch aufzufassen, missverständlich zu reagieren – und am Ende alles wiedergutmachen zu wollen, was, wie sie beide wussten, nie funktionierte. Anne frustrierte das sehr. Sie wünschte, Janet würde sich entschiedener verteidigen. Besäße Janet wiederum diese Eigenschaft, wäre sie wohl kaum die unkritische, duldsame Person, die Annes Launen wie ein gutmütiger Schwamm in sich aufsog.
    Es folgte weiteres Schlangestehen vor dem Theater, denn Janet hatte darau f bestanden, eine Dreiviertelstunde vor Beginn dort zu sein, um nicht in das allgemeine ›Gedränge‹ zu geraten. Dabei allerdings hatte sie leichtsinnigerweise übersehen, dass jede andere über fünfzig Jährige bei klarem Verstand aus der näheren Umgebung exakt auf dieselbe Idee kommen würde. Nachdem sie schließlich wie Legehennen zu ihren Plätzen im Parkett gedrängt und geschoben worden waren, stellten sie zudem fest, dass Richard Vickers Fangemeinde fast ausschließlich aus Damen fortgeschrittenen Alters bestand, die ihre Programme mit vor Aufregung feuchten Händen umklammerten. Der Rest des Publikums bestand aus leicht tatterigen älteren Herren, die einen Lebensabschnitt erreicht hatten, in dem man lieber Slipper als

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