Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
kämpfen.«
    »Natürlich. Ich habe auch nur gemeint …«
    »Ich weiß, was du gemeint hast, Janet«, unterbrach Anne sie. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber ich bin nervlich am Ende.«
    »Natürlich«, seufzte Janet ungerührt, was Anne überraschte. »Hast du noch immer etwas gegen diesen Gabriel?«
    Anne straffte abweisend die Schultern. Ihre Rücken-, Hals- und Backenmuskeln schienen sich zu verkrampfen. Mit einem Mal merkte sie, dass ihr die Tränen kamen. Entsetzt von dem Gedanken, vor Janet die Beherrschung zu verlieren, tat sie so, als suche sie in ihrer Handtasche nach einem Tuch, um ihre Brille zu putzen. Sie zwang sich zur Ruhe und einigen unauffällig kontrollierten Atemzügen. Sie bündelte ihre Gefühle zu einem ordentlichen Päckchen und verstaute sie in den Tiefen ihres Bewusstseins wie einen Stapel frischer Bügelwäsche. Dann sah sie Janet gelassen an.
    »Ich glaube nicht, dass er der Richtige für Charlotte ist«, erklärte sie ruhig. »Aber ich weiß nicht, wie ich’s ihr beibringen soll.«
    »Darf ich mal was sagen, Anne?«, begann Janet, griff über den schmalen Tisch und legte ihre Fingerspitzen an die Innenseite von Annes Handgelenk. Die leichte Berührung fühlte sich völlig fremd auf Annes Haut an und erinnerte sie an das seltsame Gefühl, wenn ihre Hand bei der Suche nach Strümpfen plötzlich über die wächserne Oberfläche des Schrankpapiers streifte. Sie nickte.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Reden in diesem Fall etwas bringt, meine Liebe. Du hast keinen Einfluss darauf, wo die Liebe hinfällt und …« Janet verstummte und beugte sich vor. Die dicke Goldkette, die sie über ihrem sackartigen braunen Pulli trug, schlug klirrend gegen die Tischkante. »Das müsstest du eigentlich am besten wissen, Anne«, erklärte sie schließlich mit Bedacht.
    Anne entzog ihr ihre Hand, sprang auf und eilte zur Zugtoilette, riss die Tür auf und betrat das hässliche, graue Kabuff. Feuchte Papiertaschentücher lagen zusammengeknüllt auf dem Fußboden. Sie starrte in den zerkratzten Spiegel über dem Waschbecken, das spinnennetzartig von namenlosen Graffiti eingerahmt war. Sie blickte ihrem Spiegelbild in die Augen und sah eine Frau mit sprödem grauen Haar, praktischer Bubikopffrisur, der Teint stumpf von der pudrigen Beschaffenheit der alternden Haut. Ihre Lippen bildeten einen schmalen, ängstlichen Strich zwischen den Kieferknochen, und die feinen, über dem Kinn auslaufenden Fältchen schienen diese Mundstellung wie Zeltheringe in Position zu halten.
    Anne nahm ihre Brille ab und ließ sie über der Brust baumeln. Sie trug sie an einer billigen Kette aus falschem Silber um den Hals, die sie vor Jahren aus einem Katalog mit hübschen, praktischen Dingen bestellt hatte. Irgendwann hatte sie diese Kataloge dann gedankenlos in die Mülltonne geworfen, ohne sie je aus ihrer Plastikhülle genommen zu haben. Wann ist das gewesen, dachte sie wirr. Wann war sie alt geworden? Sie stemmte die Hände auf das Waschbecken, beugte sich vor und senkte den Kopf, um sich nicht länger ansehen zu müssen. Dicke Tränen tropften auf den stumpfen rostfreien Stahl.
    Janet hatte recht, dachte sie. Sosehr sie es sich auch auszureden versuchte, wusste sie doch, dass sie ihn noch immer liebte. Sie vermisste ihn. Gegen ihren Willen, überlegte sie wütend, und trotz allem, was der Bastard getan hatte, vermisste sie ihn.
    Ihre Einsamkeit ließ sie fast mit Verachtung erschaudern. Sosehr sie sich auch mühte, sie konnte noch immer nicht von ihm lassen. Er war unauslöschlich; hatte sich in ihren Körper gebrannt wie eine Tätowierung, deren Tinte in die grobporige Oberfläche ihrer alternden Haut eingedrungen war, so dass sie nicht länger zu unterscheiden vermochte, was zu ihr und was zu ihm gehörte.
    Sie hatte ihn über alles gestellt: über ihre Freunde, ihr Leben, über die Karriere, die hätte sein können, und sogar über, ja über die eigene Tochter. In diesem Moment versagte sie sich weitere Gedanken. Gebot ihnen Einhalt. Sie wollte nicht an diese Zeit denken, an jenen Tag, als ihr Verrat an Charlotte nicht mehr wiedergutzumachen war. Es war da, immer da, zerstörte die glatte Oberfläche wie Feuchtigkeitsflecken, die durch frische neue Wandfarbe drangen. Dennoch wollte sie es nicht wahrhaben. Es zuzugeben, das zu benennen, was sie gesehen oder nicht gesehen hatte, den Nebel über diesem einen Bild zu lichten, hätte sie endgültig vernichtet. So weit würde sie nicht gehen, koste es, was es

Weitere Kostenlose Bücher