Scherbenherz - Roman
anstatt ihn zu genießen. Jedenfalls war dies der Grund für ihr Unbehagen. Möglicherweise funktionierte sie nicht normal. Im Gegensatz zu ihrem Vater. Sie begann sich Vorwürfe zu machen: Statt sich in seiner Nähe unwohl zu fühlen, hätte sie erwachsen genug sein müssen, seine Zärtlichkeiten so anzunehmen, wie sie gemeint waren. Er war es nicht gewohnt, seine Liebe zu zeigen, dachte sie. Daher kam vermutlich auch seine Unbeholfenheit.
Schließlich gelangte sie zu der Ansicht, sie hätte das Beste aus Charles ungeteilter Zuwendung machen müssen, eine Aufmerksamkeit, nach der sie sich normalerweise sehnte, die sie jedoch nicht zu verdienen schien. Nie hatte sie den Eindruck, seinen Fragen am Esstisch gewachsen zu sein. Nie wusste sie ihn zu beeindrucken oder ihn zum Lachen zu bringen. Nie war sie unterhaltsam genug, ihn zu amüsieren. Und deshalb stand sie unter einem enormen Druck.
Im Allgemeinen sprach Charles mit ihr wie mit einer Erwachsenen – erklärte ihr eine komplizierte Wissenschaftstheorie, von der er in der Zeitung gelesen hatte, oder äußerte sich zu aktuellen politischen Ereignissen – und erwartete reife, erwachsene Reaktionen, die sie nie liefern konnte. Sie hatte das Gefühl, ihn stets zu enttäuschen. Jede unbeantwortete Frage wurde zum Meilenstein ihres Versagens.
Und jetzt war er einmal nett zu ihr gewesen, aufmerksam, zärtlich und nicht fordernd; einmal hatte er sie umsorgt, was sie sich immer so sehr gewünscht hatte, und anstatt glücklich zu sein, war sie verstört!
Obwohl Charlotte die Welt der Erwachsenen um sie her-um bei Weitem nicht verstand, rüstete sie sich, die Rätsel, die sie ihr gelegentlichen aufgaben, geduldig hinzunehmen. Dies, so glaubte sie, machte sie anderen Kindern überlegen. Dies, das wusste sie, fand den Beifall der Eltern.
Und je mehr sie darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie, das schließlich nichts falsch an dem gewesen war, was ihr Vater getan hatte.
Und das war das erste Mal.
Janet; Anne
J anet hatte Karten besorgt. Und wenn Janet Karten für eine Kulturveranstaltung ergattert hatte, gab es kein Entrinnen. Anne kannte kaum jemand, der so effizient Tickets organisierte. Kaum wurde im Radio oder in der Zeitung ein Thea-terstück oder eine bevorstehende Ausstellung in einem der Museen besprochen, griff Janet umgehend zum Telefonhörer, rief, die Kreditkarte, Stift und Papier bereit, die entsprechende Theaterkasse oder das Kartenbüro an und reservierte Karten.
Janet konnte die neuen automatischen Ansagen nicht ausstehen, bei denen man laut mit einem Computer sprechen musste. Sie liebte Telefongespräche mit Menschen aus Fleisch und Blut, verwickelte mit Leidenschaft die jeweilige Person am anderen Ende der Leitung in bedeutungslose Gespräche über das Wetter.
Wenn Janet dann den Telefonhörer auflegte, hatte sie das Gefühl, die Welt wieder in Ordnung gebracht zu haben. Sie griff sich dann ihren Kalender aus ihrer ökologisch abbaubaren Stofftasche, blätterte durch die anstehenden Monate, bis sie das korrekte Datum gefunden hatte, und trug alle relevanten Informationen in ihrer kleinen, sauberen Handschrift ein. Ihre Termine wurden mit schwarzem Kugelschreiber umrandet, wie die Türchen eines über das ganze Jahr in regelmäßigen Abständen verteilten Adventskalenders; so hatte sie immer etwas, auf das sie sich freuen konnte. Sie war ungemein zufrieden mit sich, wenn sie wieder etwas organisiert hatte.
Der Hinweis, dass Janet stets zwei Tickets bestellte, erübrigte sich. Sie sah dies als selbstlose Geste an, zum Beispiel, um einer lieben Freundin eine Freude zu machen. Wenn sie jedoch ehrlich mit sich war, war es lediglich eine Sicherheitsmaßnahme, nicht allein gehen zu müssen. Niemand schlug bereitwillig eine Einladung aus, die mit Geld verbunden war, und die Verlockung eines Gratistickets genügte oft, um auch den widerwilligsten Kandidaten zu zähmen.
Allerdings war Janet nicht unbedingt mit einer Vielzahl von Freunden gesegnet, die sie einladen konnte. Daher gingen die Karten häufig an Nichten und Neffen, die sich dann pflichtschuldig durch Kunstgalerien oder Museen schleppten. Manchmal musste sie die zweite Karte auch verfallen lassen. Einmal war sie zu dem würdelosen Versuch gezwungen gewesen, eine Karte für ein restlos ausverkauftes Musical vor der Vorstellung vor dem Theater zum Kauf anzubieten. Dort fand sie sich am betreffenden Abend von Schwarzhändlern in langen dunklen Daunenjacken und Strickmützen umringt, die
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