Scherbenherz - Roman
sagen, dass ihr seltsames Verhalten in direktem Bezug zu jenem Abendessen mit ihrem Vater stand? Mit dem schrecklichen Gefühl, tiefer seelischer Not, das sie innerlich auffraß? Womit sollte sie anfangen? Ihm erzählen, was alles geschehen war? Das brachte sie nicht über sich. Sie konnte es sich ja kaum selbst erklären. Sie wollte nicht intensiver daran denken als nötig, weigerte sich, sich dem Diktat dieses »Etwas« zu ergeben. Es kontaminierte ihr Leben, verdüsterte es, wie ein schwarzer Mückenschwarm, der die Sonne verdunkelte. Wenn sie es ignorierte, existierte es nicht. Wenn sie seine Macht über sie nicht akzeptierte, war er machtlos. Was auch immer dieses »Es«, dieses »Etwas« sein mochte.
Sie sah zu Gabriel auf, erkannte die innige Zärtlichkeit in seinem Ausdruck: Seine großen braunen Augen erschienen ohne Brille noch größer, ihre schlichte rundliche Form erinnerte sie flüchtig an jene Manga-Figuren, die die ganze Welt um sich herum mit einem einzigen Blick aufsogen. Gabriel war zehn Jahre älter als sie. Aber in diesem besonderen Moment fühlte sie sich so viel älter, so viel erfahrener als dieser Kind-Mann, der sie eng umfangen hielt und nicht die geringste Ahnung von den düsteren Geheimnissen hatte, die sie mit sich herumschleppte. Wie sollte sie ihn je in diesen Schmutz mit hineinziehen? Sie würde damit alles aufs Spiel setzen, was sie am meisten von ihm brauchte: seine ehrlichen Absichten, die Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit all dessen, was er sagte und fühlte.
»Ich glaube, ich habe einfach nur Stress«, sagte sie schließlich und wusste, dass ihr halbherziger Versuch, die Sache herunterzuspielen, ihn kaum überzeugte. Also spielte sie ihren Trumpf aus, die Karte, die ihr zwangsläufig seine Liebe und sein Verständnis sichern musste. »Der Unfall meines Vaters, das Krankenhaus, sein unveränderter Zustand. Meine Mutter macht mich wahnsinnig, dabei kann sie eigentlich nichts dafür.« Charlotte holte tief Luft, kratzte mit einem Finger an der empfindlichen Haut an der Innenseite ihres Ellbogens, dort wo ihr Ekzem wieder aufgeflammt war. Gabriel nahm sanft ihre Hand und zog sie beiseite. Ihr Fingernagel war an der Spitze bereits blutig.
»Lass das! Du machst es nur noch schlimmer.« Er nahm sie so fest in die Arme, dass sie die Sehnen seiner Arme an ihrem Rücken spürte. »Verzeih mir, Charlotte. Ich war schrecklich egoistisch. Doch, ich weiß, das war ich. Natürlich muss dich das belasten. So was lässt sich nicht verdrängen. Keine Ahnung, wie du das alles überhaupt schaffst. Anstatt dich zu unterstützen, habe ich nur Sex im Kopf. Du hast wahrlich andere Sorgen.«
»Du hast dich ganz wunderbar verhalten«, sagte Charlotte aufrichtig. »Wirklich.«
»Blödsinn. Ich hätte viel mehr tun sollen. Aber du wolltest bisher nicht, dass ich mit ins Krankenhaus komme …«
»Das möchte ich noch immer nicht«, fiel sie ihm scharf ins Wort. »Bestimmt nicht.«
»Ich würde alles für dich tun. Das weißt du.« Er legte ihren Kopf in seine Hand. Charlotte hatte sofort ein schlechtes Gewissen, so auf die Tränendrüsen gedrückt, auf sein Mitgefühl gesetzt zu haben. Auch wenn sie es selten zugab, aber ihr Mitleid für ihren Vater, der schon mit einem Fuß im Grab stand, war begrenzt. Natürlich konnte sie so tun als ob. Sie hatte schließlich zeitlebens Theater gespielt. Sie konnte ins Krankenhaus fahren, an seinem Bett sitzen, sogar gelegentlich seine Hand nehmen und fröhlich bedeutungsloses Zeug reden, was ihr seltsamerweise eine sogar gewisse Erleichterung verschaffte. Es war ein Zustand in der Beziehung zu ihrem Vater, den sie sich immer gewünscht hatte – unbeschwert und kommunikativ, ohne die Last jenes Wissens, das so unendlich schwer auf ihren Schultern lastete. Es war bisher die einzige Zeit in ihrem Leben, in der sie sich frei von seinem Urteil, seiner Kritik fühlte. Sie sehnte sich längst nicht mehr nach seiner Zustimmung, und stolz sollte er auch nicht mehr auf sie sein. Sie wusste mittlerweile, dass er dazu nicht fähig war. Unbehagen und Schuld fraßen sich nicht mehr wie stete Tropfen durch ihre Gespräche, wie das meist der Fall gewesen war. Sie hatte keine Angst mehr, mit ihm allein zu sein. Er konnte sie ja nicht mehr berühren. Auf welche Art auch immer.
Wie sollte sie Gabriel das alles klarmachen? Das konnte sie nicht. Noch nicht. Vielleicht nie. Und weil es einfacher war, als die richtigen Worte zu finden, weil sie auf diese Weise nichts erklären musste,
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