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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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grenzenlose, graue und weite Ebene. Zuerst hatte Anne angenommen, das unaufhörliche Trommeln des Regens auf dem Schieferdach ihres Ferienhäuschens könne eine romantische Stimmung erzeugen. Ihr Schlafzimmer lag am oberen Ende einer wackeligen Holztreppe dicht unter dem Dach, so dass Charles sich jedes Mal den Kopf anstieß, wenn er nachts aufstand, um zur Toilette zu gehen. Die Fenster waren nicht wasserdicht, und das ganze Haus roch muffig nach feuchten Vorhängen und Mottenkugeln.
    »Die Mansarde sieht aus wie die von Spitzwegs ›Armem Poeten‹«, bemerkte Anne so heiter wie möglich.
    »Ja«, sagte Charles. »›Arm‹ trifft es haarscharf.«
    Doch er hob sie nicht schwungvoll hoch in seine Arme, um sie in einem Anfall zügelloser Leidenschaft ins Bett zu tragen, oder tat sonst irgendetwas von dem, das sie erwartet hatte. Während Charles in der Zeit davor stets der Initiator des Liebesspiels gewesen war, sah sich Anne plötzlich in der verstörenden Situation, dass er keinerlei Anstalten machte, mit ihr zu schlafen, und sie ihn auch nicht darum bitten wollte. Sie war nicht selbstsicher genug, ihm Fragen zu stellen, und tat daher ihre Enttäuschung und Sorge als grundlos ab. Vielleicht passierte das eben manchmal in den Flitterwochen, redete sie sich ein.
    Am dritten Morgen nach ihrer Ankunft wachte Anne auf und entdeckte, dass Charles nicht mehr neben ihr lag. Auf der Matratze zeichnete sich noch der Abdruck seines Körpers ab, doch die Laken waren kalt. Er schien das Bett schon vor einiger Zeit verlassen zu haben.
    »Charles?«, sagte sie schläfrig.
    Keine Antwort. Sie zog ein Paar Socken an und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Unten befand sich nur ein Zimmer mit einem kleinen braunen Sofa in einer Ecke, umgeben von einem spärlich mit Taschenbüchern bestückten Bücherregal. Die Zeitung, die sie aus England mitgebracht hatten, lag achtlos gefaltet auf dem Sitz eines abgewetzten Sessels, die Titelseite voll von Schlagzeilen über die Verurteilung von sechs IRA-Angehörigen wegen eines Bombenattentats auf eine Kneipe in Birmingham. Auf der anderen Zimmerseite stand ein viereckiger Tisch mit einem rot-weiß karierten Wachstischtuch. Die Tür dahinter führte direkt in die geflieste Küche. Von Charles keine Spur.
    Sie kehrte leise ins Dachzimmer zurück, versuchte sich keine Sorgen zu machen, konnte sich jedoch wachsender Panik nicht erwehren. Ihr wurde allmählich klar, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Sie war erwachsen, verheiratet, in den Flitterwochen mit einem Mann, der für sie praktisch über Nacht zu einer Sphinx geworden war. Sie fühlte sich wie ein dummes Kind, das die hochhackigen Pumps der Mutter ausprobierte, ohne zu ahnen, wie lächerlich, wie naiv es damit wirkte.
    Warum hatte ihr niemand gesagt, was sie nach der Hochzeit erwartete? Warum hatte ihr niemand gesagt, dass die Ehe eine seltsame neue Welt eröffnete, in der man sich ohne fremde Hilfe zurechtfinden musste, in der die Eltern einen nicht mehr liebevoll an die Hand nahmen? Warum redete niemand darüber, welche Ernüchterung, wie deprimierend es war, sich so … so … zu fühlen wie … Anne suchte nach Worten. Von Glück oder Zufriedenheit jedenfalls konnte nicht die Rede sein. Sie hatte vielmehr das Gefühl, blind in eine Falle getappt zu sein. Wie hatte sie nur so weltfremd sein können, fragte sie sich verzweifelt. Sie war derart auf Verlobung und Heirat fixiert gewesen, dass sie keinen Gedanken an das »Danach« verschwendet hatte. Und nun saß sie in Frankreich und wusste nicht, wie sie mit den veränderten Vorzeichen umgehen sollte.
    Sie kroch ins Bett zurück, behielt die Socken an, um sich die eiskalten Zehen zu wärmen. Sie zog sich die Daunendecke über den Kopf, machte die Augen fest zu und hoffte, einfach wieder einzuschlafen. Dabei kamen ihr jene Nächte ihrer Kindheit wieder in den Sinn, als die Eltern spätnachts von einer Party nach Hause gekommen waren, sie sich schlafend gestellt und die Eltern sie zur Nacht geküsst hatten. Und da kamen ihr die Tränen. Anne war entsetzt über sich selbst. Diese Wochen hätten die glücklichsten ihres Lebens sein müssen. Stattdessen lag sie hier und vermisste schmerzlich ihre Eltern. Das ist lächerlich, schalt sie sich streng. Charles würde bald zurückkommen – vermutlich hatte er sich nur davongeschlichen, um Croissants und Kaffee zum Frühstück zu besorgen.
    Der Gedanke an Frühstück entpuppte sich als leidlich tröstlich – das Geräusch von

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