Scherbenherz - Roman
küsste sie ihn heftig auf den Mund, schaltete den Teil ihres Gehirns aus, das laut und vernehmlich Nein schrie, und als sie zu dem kritischen Punkt kamen, als handfester Sex die unvermeidliche Folge zu sein schien, war es Gabriel, der sie von sich schob, sanft und mit einem Lächeln. Sie erwiderte sein Lächeln, erleichtert. Sie schliefen ein, dicht aneinandergeschmiegt. Ihre Hände und Zehen berührten sich wie Klammern am Anfang und Ende eines Satzes.
Anne; Charles
D as Unglück nahm seinen Lauf. Und zwar schon fast von Anfang an. Wenn Anne auf die ersten Tage ihrer Ehe zurückblickte, stand sie noch immer vor einem Rätsel. Sie konnte nicht begreifen, wie schnell die Veränderung vor sich gegangen war. Es war nicht jener schleichende Prozess gewesen, den sie vielleicht hätte erwarten können. Es hatte nie irgendwelche Vorzeichen gegeben, die eine derart krasse Veränderung der Tonart erklärt hätten, so wie die Schlüsselerlebnisse, die sie aus der Literatur kannte. Es gab keine verräterischen Hinweise, kein fremdes Parfüm an seinem Hemdkragen, keine getrennten Betten, kein sukzessives Auseinanderdriften, keines der Dinge, die Paare in Büchern oder Soaps im Fernsehen einander entfremdeten. Charles hatte lediglich eine Tür geschlossen, einen Schalter umgelegt, einen Schlussstrich gezogen. Es war, als habe er sie unmittelbar nach der Hochzeit sorgfältig in eine Schachtel gepackt und diese mit der Aufschrift »Ehefrau« abgelegt, wie ein Kleidungsstück, das ihn nicht länger kümmerte. Er hatte die Hochzeit mit der hübschen Braut ohne große Anstrengung durchgezogen, den Konventionen Genüge getan. Anne kam es so vor, als habe er ein lange geplantes Vorhaben abgeschlossen und ad acta gelegt. Es war, als habe er ein bestimmtes Ziel erreicht, den Akt der Heirat als Pflichtaufgabe vollzogen, sie auf einer nach oben offenen Skala von Notwendigkeiten abgehakt und sich damit für den Rest des Lebens davon befreit. Das Label »verheiratet« an sich war Charles genug. Irgendeinen tieferen Sinn musste es für ihn nicht haben.
Der Hochzeitstag verlief genau nach Plan. Die Dorfkirche in der Nähe ihres Elternhauses präsentierte sich als ein Meer aus Wicken, so dass Anne glaubte, ihren Marzipanduft bereits zu riechen, als sie in ihrem weißen Kleid aus dem taubengrauen Oldtimer stieg.
»Ich bin so glücklich, Daddy«, flüsterte sie ihrem Vater zu, als dieser ihr den Arm reichte, um sie über den Rasenstreifen zwischen den Steinplatten zu führen, in die die Namen der Vorfahren eingraviert waren.
»Freut mich, Liebes. Der Bursche ist ein Glückspilz.«
Und das Erstaunliche war, Anne hatte es todernst gemeint. Hatte ohne Arg, ganz spontan, fast unbeholfen ihr Glück eingestanden. Obwohl es in den vergangenen Wochen insgeheim Momente gegeben hatte, in denen sie skeptisch und unsicher war, hatte sie diese Zweifel den anstrengenden Vorbereitungen zugeschrieben – die Sitzordnung musste erstellt, die Kirchenlieder ausgewählt werden. Am Tag der Hochzeit selbst waren diese Skrupel verflogen. Sie war vollkommen ruhig, beflügelt durch das Wissen um ihre eigene strahlende Erscheinung, ihrer Zukunft sicher.
Unter dem Kirchenportal blieb sie kurz stehen, strich ihr Kleid glatt und hörte das erwartungsvolle Raunen der Gemeinde, Gesprächsfetzen und unterdrücktes Lachen. Sie spürte die gespannte Erwartung, die stets mit solch großen Ereignissen einherging, die freudige Aufgeregtheit der Gäste. Anne fühlte ein Kribbeln und tiefe Zufriedenheit angesichts der Tatsache, dass diese Menschen gekommen waren, um ihren großen Tag mitzuerleben. In der einen Hand hielt sie ihren Brautstrauß aus blauen und altrosafarbenen Frühlingsblumen. Die andere legte sie au f ihren Brustkorb, presste die Handfläche auf die beruhigend raue und seidige Oberfläche ihres Oberteils aus Rohseide. Sie spürte das schnelle, heftige Klopfen ihres Herzens. Ihr Kleid saß so eng, dass jeder Atemzug von einem leisen Pfeifton begleitet wurde.
»Bereit?«, fragte der Vater.
Anne lächelte und nickte, hielt den Strauß anmutig in beiden Händen. Das Orgelspiel begann.
Sie fuhren im alten schwarzen Austin ihrer Eltern in die Flitterwochen in die Normandie. Es regnete fast täglich: Eine undurchdringliche, nebelähnliche Feuchtigkeit legte sich über die Landschaft, bis sich die Felder selbst im Dunst aufgelöst und in den Himmel entwichen zu sein schienen. Der Horizont verschwamm im endlosen Nichts, und die Umgebung verwandelte sich in eine
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