Scherbenherz - Roman
argumentierte sie, bescherte der Geschlechtsakt mit ihr einer anderen Person einen Orgasmus, dann musste sie für denjenigen attraktiv sein. Diese Tatsache und das Wissen darum verschafften ihr für einige wenige Stunden Befreiung, halfen ihrem Selbstbewusstsein. Denn die Fähigkeit, sexuelle Lust in einem Mann zu ent-fachen, ihn schwach werden zu lassen, gaben ihr Macht. In der Vergangenheit, wenn sie wütend oder unglücklich wegen eines Freundes gewesen war, hatte sie das unbewusst auf die sexuelle Beziehung übertragen. Sie blieb dann beim Geschlechtsakt absichtlich teilnahmslos. Sie schrie nicht laut auf oder stöhnte vor Verlangen. Sie schlang ihre Arme nicht um seinen Hals oder die Beine um seinen Rücken. Sie beschränkte sich auf die absolut nötigen Berührungen. Sie sah demjenigen kühl in die Augen, während er in sie drang, und zog ihr Innerstes gewaltsam zusammen, um ihn wie in einer Falle festzuhalten. Dann würde sie ihn ansehen, sobald er gekommen war, spüren, wie sich sein Sperma auf das Laken ergoss, und wissen, dass sie letztlich die Stärkere von beiden war. Sie brauchte ihn nicht, wie er sie brauchte. Sie hatte die Wahl.
Paradoxerweise hatte dieses Spiel gewöhnlich exakt den gegenteiligen Effekt – ihre passive und wortlose Hingabe schien die Männer zu noch größerer Lust und Leidenschaft aufzuheizen als alles andere, was sie tun konnte; alles Gelutsche, Stellungsspiele, Streicheleien, Zärtlichkeiten, heftige Bewegungen und keuchender Atem waren harmlos dagegen. Häufig hatte Charlotte das Gefühl, als würde sie von einer Zimmerecke aus eher einer perfekten Vorstellung beiwohnen als sich in hemmungsloser Lust verlieren. Es schien ihr, als wäre Sex das Konglomerat bekannter Szenen und Bilder aus Filmen und Magazinen. Auch das kein wahrhaftiges Gefühl.
Mit Gabriel war das von Anfang an anders. Die Vorbilder waren immer noch in ihrem Kopf, doch wurden die Szenen neu gemischt, und plötzlich begriff sie, wofür sie standen. Die Urbilder sexueller Verhaltensmuster, bisher nur in Schwarz-Weiß verfügbar, entfalteten sich mit einem Mal in einem Feuerwerk der Farben.
»So soll Sex sein«, hatte Gabriel einmal in den frühen Tagen ihrer Beziehung gesagt, ein lakonisches, postkoitales Lächeln auf den Lippen.
»Es war unglaublich«, murmelte Charlotte, die sich das unvermeidliche, selbstgefällige Klischee nicht verkneifen konnte.
»Du bist unglaublich.«
Mit Gabriel war Sex zu einer Offenbarung geworden. Charlotte hatte sich zwar einiges davon erwartet, aber wie sich herausstellte, war es mehr als nur gut. Es war – und sie hasste sich für den abgedroschenen Ausdruck – die Erfüllung. Er machte sie stärker, brachte sie einander näher. Er war Ausdruck absoluter Offenheit: ohne Versteckspiel, Täuschung oder der Angst, eine Messlatte angehalten zu bekommen. Charlotte war sicher, dass keiner von ihnen je so guten Sex gehabt hatte. Und zum ersten Mal wollte sie Gabriel glücklich machen, anstatt nur das abzuspulen, was von ihr erwartet wurde. Selbst orale Befriedigung wurde eine natürliche Sache. Gabriel war der einzige Mann, dem sie es je auf diese Art besorgt hatte. Sie hatte keine Angst vor ihm.
Zumindest bis vor ein paar Wochen war es so gewesen. Dann hatten sich die Dinge auf unerklärliche Weise verändert; zuerst, ohne dass einer von ihnen etwas gemerkt hätte. Es war ein allmählicher Prozess, wie die Verwandlung einer Landschaft durch den langsamen Fluss eines Gletschers. Charlotte hatte mit einem Mal keine Lust mehr auf Sex. Am Anfang machten sie sich deshalb kaum Gedanken. Es stand unausgesprochen zwischen ihnen. Sie küssten sich und kuschelten wie immer und taten all die anderen Dinge, die das Kino als »heavy petting« bezeichnen würde. Zu einer Penetration kam es nicht. Wann immer sie das Stadium erreichten, wo dies der unvermeidlich nächste Schritt gewesen wäre, legte Charlotte Gabriel sanft, aber bestimmt die Hand auf die Brust und schob ihn lächelnd und kopfschüttelnd von sich. Gabriel hatte das über einen Monat lang hingenommen, ohne Fragen zu stellen. Aber mittlerweile hatte sich das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht stimmte, immer mehr verdichtet. Gabriel sah sie erwartungsvoll an. Charlotte musste endlich Farbe bekennen.
»Tut mir leid«, sagte sie mürrischer als beabsichtigt.
»Es muss dir nicht leidtun. Ich will einfach nur wissen, was los ist. Was geht dahinter vor?« Er tippte auf ihre Stirn.
Wie sollte sie es ihm sagen? Wie konnte sie ihm
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