Scherbenherz - Roman
Worten mit, aber Charles lächelte, kam zu ihr, die Arme ausgestreckt, als sei nichts geschehen. Anne brachten die unterschiedlichen Signale, die er aussandte, völlig durcheinander – die Aggressivität in seiner Stimme in Verbindung mit offenbar liebevoll gemeinten Gesten. Dennoch sank sie mit einer Erleichterung in seine Arme, die an Dankbarkeit grenzte. Er nahm mit einer Hand ihr Kinn, drehte ihr Gesicht grob zur Seite und küsste sie auf die Wange, presste sich so dicht an sie, dass sie seine Bartstoppeln schmerzhaft auf ihrer Haut spürte. Sie zwang sich zu einem albernen Lachen. »Autsch«, sagte sie und versuchte, ihr Gesicht aus seinem Griff zu befreien. Vergeblich. Nach einigen Sekunden erst ließ er sie los. Sie ging zur Treppe. »Ich ziehe mir nur was Anständiges an«, verkündete sie und bemühte sich, die Kontrolle über ihre Stimme zu behalten, die ihr zu versagen drohte.
»Schätze, das lohnt sich nicht.«
»Wie meinst du das?« fragte sie leichthin.
»Ich meine damit, dass sich das Anziehen kaum lohnt, wenn ich dich sowieso gleich wieder ausziehe.« Er starrte sie unverwandt an. Sein Gesicht lag größtenteils im Schatten, nur seine Augen wirkten im schwachen Licht der Dämmerung unnatürlich groß. Sie glitzerten wie blaue Glasmurmeln im Halbdunkel.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging die Treppe hinauf. Das Holz knackte unter ihren Schritten. Er folgte ihr dichtauf, eine Hand zwischen ihren Schulterblättern, so als wolle er sie die Treppe hinaufstoßen.
Oben angekommen setzte sich Anne stumm auf die Bettkante. Die Matratze gab etwas unter ihrem Gewicht nach. Sie zog die Socken aus, und der Anblick ihrer nackten Füße kam ihr gleichermaßen rührend wie absurd vor. Sie konzentrierte sich auf die geschwungene Silhouette ihres rosigen Zehs auf den hellbraunen Holzdielen, während Charles sich auszog. Sie sah seinen erigierten Penis unter dem dünnen Baumwollstoff seiner Boxershorts, als er seine Cordhose fallen ließ, sie übertrieben sorgfältig zusammenlegte und über die Kommode hängte.
»Dreh dich um«, befahl er tonlos.
Anne drehte sich um. Sie lag jetzt flach auf ihrem Bauch, die Arme, einem Opfer gleich, seitlich ausgebreitet.
»Auf alle viere! Hoch mit dir!«
Sie stützte sich auf ihre Hände auf. Ihre Kniescheiben knackten leicht in der Dunkelheit. Er stellte sich hinter sie, legte seine kalten Hände seitlich auf ihre Pobacken. Schnell und ohne jede Vorwarnung drang er tief und immer tiefer mit lautem Stöhnen in sie ein. Anne hörte sich wimmern. Einen kurzen Moment lang redete sie sich ein, dass sie es nicht anders gewollt habe. Immerhin hatten sie Sex, wie sich das für Paare in den Flitterwochen gehörte. Dann allerdings schaltete sie mit jedem seiner Stöße einen Gedanken nach dem anderen aus. Denken war jetzt sinnlos. Sie musste es hinnehmen. Hinnehmen und überleben.
Charlotte
C harlotte hatte sich bereit erklärt, sich nach Büroschluss mit Gabriel in ihrem Lieblingspub auf einen Drink zu treffen. Sie ahnte, dass es der bewusste Versuch seinerseits war, das prickelnde Gefühl der Anfangszeit ihre Beziehung wiederzubeleben, den unterschwelligen Spannungen zwischen ihnen entgegenzuwirken, zur Normalität zurückzukehren. Was man auch immer unter Normalität verstehen mag, dachte sie und bestellte ein Glas Weißwein der Hausmarke.
»Chardonnay oder Sauvignon?«, erkundigte sich die Frau hinter der Theke, eine verhärmte Vierzigjährige mit gefärbtem blondem Haar und einem purpurroten T-Shirt, unter dem sich über der Taille stattliche Rettungsringe abzeichneten.
Charlotte überlegte kurz, welcher von beiden wohl weniger scheußlich schmecken würde. »Sauvignon, bitte.«
Der Wein kostete drei Pfund achtzig und roch nach Alleskleber. Sie trank einen Schluck, ging mit ihrem Glas zu einem Ecktisch, rutschte vorsichtig auf der dunklen Holzbank an die Wand, um nichts zu verschütten. Irgendwie schaffte sie es stets, zu viele Tüten mit sich herumzuschleppen, und als sie versuchte, diese unter dem Tisch zu verstauen, gab ihr Handy den vertrauten Piepton von sich. Sie hatte eine SMS erhalten. »Komme etwas später. Dauert nicht lange. Entschuldige. Liebe dich, G.«
Sie sah auf die Uhr. Es war bereits halb acht Uhr abends. Sie selbst war wieder einmal spät dran gewesen. Dummerweise hatte sie gerade ihre U-Bahn-Lektüre, einen Roman, beendet. Sie hatte daher nichts anderes zu lesen als eine knittrige, leicht feuchte Ausgabe des Evening Standard . Sie
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