Scherbenherz - Roman
Strand.
»Ähm«, räusperte er sich. »Du hast meine Ausgabe von Große Erwartungen entdeckt.
»Wie man sieht«, antwortete Charlotte pampig.
Er klappte das Buch zu und steckte es wieder in seine Aktentasche. Dann wartete er stumm, wappnete sich gegen das, was kommen würde.
»Möchtest du mir was darüber erzählen?«
»Nicht unbedingt«, sagte er spitz.
»Wirklich nicht? Du willst mich nicht an diesem sensationellen Wochenende vor dem knisternden Kaminfeuer in Cornwall teilhaben lassen?«
»Herrgott, Charlotte …«
»Würde mich schon interessieren. Ehrlich, ich brenne darauf, alles über diese wunderbaren Zeiten zu erfahren, die du mit deiner Exfrau erlebt hast.« ›Exfrau‹ klang aus ihrem Mund wie ein Schimpfwort.
Gabriel blieb ruhig. Seine Stimme klang, wie immer wenn er der Vernünftige sein wollte, wie ein nahezu hypnotisches Flüstern.
»Vielleicht erklärst du mir, wie du dazu kommst, in meiner Aktentasche herumzukramen.«
»Ich habe nicht gekramt …«
»Ich finde, das tut man nicht. Vor allem nicht, wenn man jemandem vertrauen kann, wenn man vorgibt, jemanden zu lieben … «
»Und ich finde, dass jemand, der vorgibt, mich zu lieben, keine romantischen Souvenirs von anderen Frauen mit sich herumtragen sollte.«
»Ich habe dieses Buch nicht mit mir herumgetragen …« Er merkte, dass er laut wurde, und nahm sich zurück. »Ich habe einfach nur eines meiner Lieblingsbücher gelesen …«
»Oh, es ist also dein Lieblingsbuch? Wie reizend. Wie süß, dass du diese Vorliebe mit ihr teilst.« Charlotte hörte ihre Stimme, hörte, wie sie Gift verspritzte, hasste sich dafür, konnte sich jedoch nicht im Zaum halten. Sie war so unvorstellbar wütend, ihr Ärger so gerecht, so gerechtfertigt, so maßlos, dass sie ihren Gefühlen freien Lau f ließ, sie ausdünstete wie Stickstoff, der verdampfte.
Und im Stillen wusste sie genau, wie absurd, geradezu bizarr sie sich benahm. Auch sie besaß Bücher mit Widmungen ehemaliger Liebhaber. Aber im Unterschied zu Gabriel schleppte sie diese nie als Lektüre mit sich herum. Gabriels Gefühle waren ihr wichtig. Sie hätte es nie gewagt, etwas herumliegen zu lassen, was ihn verletzen könnte. Außerdem war da ein großer Unterschied, dachte sie innerlich Gift und Galle spuckend. Sie war, verdammt noch mal, nie verheiratet gewesen.
Gabriel musterte sie starr. Sie hielt seinem Blick sekundenlang schweigend stand, dann senkte sie die Lider und trank einen großen Schluck Wein.
»Ich hatte ihre Widmung völlig vergessen«, sagte er gedehnt. Er seufzte. »Das bedeutet überhaupt nichts …«
»Natürlich bedeutet es etwas. Sie spricht davon, wie sehr sie dich liebt: ›auf ewig‹.«
»Aber, Charlotte, Tatsache ist doch, dass ich nicht bei ihr bin, oder? Ich liebe dich. Ich bin mit dir zusammen.«
Er legte die Hand auf ihre geballte Faust und streichelte ihre Finger, zwang sie, die Verkrampfung zu lockern, so dass sie plötzlich seine Hand hielt, die sich warm und weich auf ihrer Haut anfühlte. Sie sah ihn nicht an.
»Ich hör auf, es zu lesen«, erklärte er lächelnd. »Ich habe es so oft gelesen, dass es allmählich langweilig wird.«
Noch Tage danach war Charlotte wie besessen von dem Gedanken an Maya, und es wurde immer schlimmer. Die Handschrift hatte aus Gabriels Exfrau plötzlich ein Wesen aus Fleisch und Blut gemacht, ihr Gestalt und Intellekt eingehaucht, vage Vorstellungen davon übermittelt, was für eine Frau sie sein könnte. Bis dahin hatte Charlotte Maya als bloßen Schattenriss abhandeln können, als jemanden, den Gabriel nicht mehr liebte und daher keine von Charlottes Qualitäten, ihre Anziehungskraft oder Talente besaß. Eine Frau, von der sie, Charlotte, nichts zu fürchten hatte.
Die Entdeckung des Buches stellte all diese Vorstellungen infrage und entlarvte sie als sträflich oberflächlich. Denn was Gabriel jetzt auch immer fühlte, er hatte Maya einmal geliebt. Hatte sie genug geliebt, um sie zu heiraten. Hatte geglaubt, diese Liebe würde ein Leben lang halten. Drängte sich in diesem Fall nicht der Schluss auf, dass Maya und Charlotte Gemeinsamkeiten haben mussten? Dass Gabriel einen bestimmten »Frauentyp« bevorzugte?
Da war zum Beispiel die Liebe zu Büchern. Dabei war Charlotte offenbar dem Irrtum erlegen, ihre langen, wein-seligen literarischen Exkurse mit Gabriel wären etwas, was ihre Beziehung besonders machte. Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, Gabriel jenen Sinn für Kultur bieten zu können, den er bei seiner
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