Scherbenherz - Roman
ehemaligen Lebenspartnerin vergebens gesucht hatte.
Das galt auch für so banale Dinge wie die Vorliebe für offene Kaminfeuer. Oder der Kauf antiquarischer Ausgaben von Große Erwartungen auf Flohmärkten oder Wohltätigkeitsveranstaltungen. Auf alle diese Eigenschaften hatte Charlotte geglaubt, das Monopol zu besitzen. Sie waren ihr als die Essenz dessen erschienen, was sie so charmant und einzigartig machte. Aber jetzt konnte sie nichts mehr von alledem für sich beanspruchen, ohne das Bild der Frau heraufzubeschwören, die ihre Vorgängerin gewesen war.
Dieser Gedanke nagte an ihr. Sie durchsuchte heimlich Gabriels Brieftasche, prüfte den Inhalt au f Hinweise auf sein vergangenes Leben. Sie war paranoid und verzweifelt genug, um die Textmitteilungen auf seinem Handy zu lesen, solange er im Badezimmer war. Sie wollte unbedingt etwas Belastendes finden, das ihre Verdächtigungen rechtfertigte, das bewies, dass sie recht gehabt hatte, ihm zu misstrauen, während sich ein nicht unerheblicher Teil von ihr gleichzeitig vor der Entdeckung einer Lüge, eines Betrugs fürchtete.
Wie sich herausstellte, befand sich nichts in seiner Brieftasche oder in seinem Telefon, was auch nur entfernt auf düstere Geheimnisse hingedeutet hätte. Dennoch konnte sie sich eines leisen, unbehaglichen Grummelns nicht erwehren. Folglich tat sie etwas, das sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie nahm Gabriels Führerschein und merkte sich die dort eingetragene Anschrift. Mit dem Straßennamen – Ellingham – konnte sie etwas anfangen; es war eine Adresse in Shepherd’s Bush, einem Wohnviertel, das als der schickere Teil von Hammersmith galt.
Am Mittwoch in der Mittagspause, als sich die beiden neuen Agenturchefs in ein kleines Büro zu einem großspurig als »Aufsichtsratsitzung« betitelten Treffen zurückzogen, hastete Charlotte zu ihrem Wagen, ein Hühnchensandwich in der einen, die Autoschlüssel in der anderen Hand. Sie fühlte sich wie die Agentin in einem drittklassigen Film, die von einer dubiosen Bande von Mördern gejagt wurde, die ein fetter Mann mit einer weißen Katze auf dem Schoß auf sie angesetzt hatte. Sie riss die Autotür auf, kletterte hinters Steuer und warf Sandwich und Handtasche auf den Beifahrersitz. Ein leerer Pappkaffeebecher lag zerknüllt im Fußraum. Bei seinem Anblick fragte sich Charlotte, ob es in Mayas Wagen ebenso unordentlich aussah. Falls diese überhaupt ein Auto hatte. Vielleicht, so überlegte Charlotte, war sie eine umwerfend vorbildliche Umweltschützerin, die alles mit dem Fahrrad erledigte und dabei in eng anliegenden, mit Leuchtstreifen versehenen Fahrradtrikots und sportlich trainierten, eleganten Armen und Beinen auch noch unglaublich attraktiv aussah.
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und fuhr los. Eine Viertelstunde später betätigte sie den Blinker, um in die Ellingham Road einzubiegen. Sie fuhr vorsichtig über die Schwellenhindernisse und hielt dabei nach der gesuchten Hausnummer an den Fassaden Ausschau. Als sie sich der Nummer zwölf näherte, klopfte ihr Herz hörbar schneller. Dann tauchte es plötzlich vor ihr auf: eine in Enteneierblau gestrichene Tür, ein hübscher Vorgarten, der hauptsächlich aus einer Veranda bestand, und Blumenkästen mit üppigen roten Geranien. Charlotte parkte so nahe wie möglich, wartete, kaute an ihrem Sandwich, den Blick auf die Haustür gerichtet.
Es war Mittagszeit, doch Charlotte hatte von Gabriel aufgeschnappt, dass Maya mittwochs zu Hause arbeitete. Sie war Innenarchitektin und hatte einen privaten Kundenstamm, den sie sich durch Mundpropaganda erworben hatte. Sie war »unglaublich« gut in ihrem Beruf, wie Gabriel einmal gedankenlos erwähnt hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte Charlotte die Bemerkung wie viele andere Hinweise sorglos weggesteckt. Jetzt allerdings rückten diese Dinge erneut und mit geradezu ärgerlicher Intensität in den Vordergrund ihres Bewusstseins.
Kein Wunder also, dass die Hausfront so gepflegt aussah. Charlotte verglich sie insgeheim mit der Fassade ihrer Parterrewohnung, den Fenstern mit abblätternder Farbe, dem verrottenden Holz, den stumpfen, meist ungeputzten Fensterscheiben und anderen Schönheitsfehlern.
Sie hatte ihr Sandwich gerade zur Hälfte verzehrt, als die Haustür nach innen aufging. Zuerst konnte Charlotte nichts außer einem dunklen Flur erkennen und eine Frauenstimme hören.
»Okay. Aber selbstverständlich«, tönte die Stimme. Sie klang deutlich nach »upper class«, jedoch durchaus
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