Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
ein miserables Gefühl war. Behielt sie das Kleid an, fühlte sie sich vermutlich den ganzen Abend lang unwohl, zweifelte ständig an ihrem Geschmack und fürchtete, in jedem auf sie gerichteten Blick Missfallen zu erkennen. Schließlich ging sie in den Flur, nahm eine lange, schwarze Kaschmirjacke von der Garderobe und zog diese über. Das leuchtende Grün des Kleides wirkte unter der schwarzen Strickware beinahe stumpf. Endlich hatte sie das Gefühl, ihren modischen Höhenflug ausreichend abgemildert zu haben.
    Als sie die Flasche Gordon Gin entdeckte, die noch geöffnet auf der Anrichte stand, schenkte sie sich ein großes Glas ein. Sie war einen Moment unschlüssig, ob sie noch Tonic Water dazu geben sollte, entschied sich dagegen und schüttete den Gin in einem Zug hinunter. Anne fühlte, wie die aromatische Flüssigkeit kitzelnd durch ihre Kehle rann und in ihren Magen schwappte. Ihre Magensäfte gurgelten, und die Magenwände rebellierten. Sie schenkte sich ein zweites Glas ein und kippte es ebenfalls hinunter. Als Charles frisch rasiert und in einem neuen Hemd herunterkam, fühlte Anne sich angenehm betäubt und für den Abend gerüstet.
    Cynthias Ehemann, Giles, öffnete die Tür. »Hallo, da seid ihr ja, ihr Redferns!«, begrüßte er sie mit leicht spöttischer Ausgelassenheit. Giles war ein Mann mit gerötetem Gesicht, der zu viel trank und dessen rote Äderchen mit jedem Glas Burgunder noch intensiver zutage traten. An diesem Abend garnierten diese Äderchen seine Nase wie Höhenschichtlinien einer amtlichen Landvermessungskarte. Anne deutete dies als Zeichen dafür, dass er bereits ziemlich abgefüllt war.
    »Hallo, Giles«, sagte sie lächelnd, beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. Seine Haut fühlte sich klamm an. Er umarmte sie etwas zu lange und drängte sich etwas zu fest an sie, so dass sie sich ihm beinahe gewaltsam entwinden musste.
    »Annie! Du siehst wieder zauberhaft aus.« Er zog eine Show ab, nahm sie bei der Hand und trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten. »Du hast verdammtes Glück, Kumpel«, sagte Giles, drückte Charles die Hand und zog beide in Richtung des lärmenden Partygetümmels. Die Geräuschkulisse bestand aus Klaviergeklimper von Richard Clayderman, lauten Stimmen und gelegentlichen Lachsalven.
    »Immer rein mit euch. Cynthia macht gerade die Runde mit einem besonders leckeren französischen Brie.«
    Anne sah Charles an, und für einen Moment tauschten sie den kumpelhaften Blick von zwei Verschwörern, die unverhofft in eine peinliche Situation geraten waren. Charles nahm Annes Hand, drückte sie fest, und so marschierten sie in das Wohnzimmer der Trenemans. Anne war wie elektrisiert von dieser kleinen intimen Geste. Mit einem Schlag löste sich die unsinnige Anspannung in Luft auf, die sich vor dem Abend in ihr aufgeschaukelt hatte. Er liebte sie also noch immer.
    Cynthia schwirrte in einer Wolke aus Haarspray und blass purpurfarbener Angorawolle auf sie zu. »Anne! Charles! Wie schön, dass ihr kommen konntet!« Sie hauchte Anne einen Kuss zu, stürzte sich dann auf Charles und hinterließ eine verschmierte Lippenstiftspur an seinem Mundwinkel.
    »Cynthia, du siehst fantastisch aus«, sagte Charles mit einem Raubtiergrinsen. »Tausend Dank für die Einladung. Scheint mir ja eine prächtige Party zu sein.«
    Charles Lobeshymne klang so unsäglich echt, dass Anne sich automatisch im Raum umsah, ob ihr möglicherweise etwas Ungewöhnliches entgangen sein könnte. Weit gefehlt. Sie erkannte die üblichen Verdächtigen: die Gordons (Tina und Max), die Chethursts (Gwen und Tommy), die Stenhams (Julie und Terry) und die Cockburns (Marcus und Antonia). Marcus fing ihren Blick auf und prostete ihr mit seinem Weinglas zu, ein verstecktes anzügliches Grinsen im Gesicht. Anne stöhnte innerlich auf. Marcus war ein seltsamer kleiner Mann mit viel zu langem Haar und schmuddeligen Hemdkrägen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte er von dem Augenblick des Einzuges der Redferns in die Carlton Avenue einen Narren an Anne gefressen. Die Tatsache war zu einer Art Running Gag in ihrem Zirkel geworden, denn auf den Nachbarschaftspartys verfolgte er Anne mit seinem traurigen Hundeblick au f Schritt und Tritt, während er seine mausgraue, aber liebenswerte Frau vollkommen ignorierte.
    Und dieser Abend sollte keine Ausnahme sein. Kaum hatte Cynthia sie mit dicken Stücken von ihrem kühlschrankkalten Brie (auf einer Serviette serviert) versorgt, schlurfte Marcus quer durch

Weitere Kostenlose Bücher