Scherbenherz - Roman
den Raum auf sie zu, die Schultern zielstrebig hochgezogen. Als Anne sich umsah, war Charles verschwunden.
»Na, wie geht’s, wie steht’s, Anne?«, erkundigte sich Marcus und fuhr sich mit der Hand durch sein fettiges Haar. Eine lichte Wolke aus Schuppen regnete wie Staub auf seine Schultern. Sein Atem roch lau nach verkochtem Gemüse und billigem Wein.
»Sehr gut, danke«, erwiderte Anne mit unverbindlichem, starrem Lächeln. »Was macht Antonia?«
»Oh, alles in Ordnung.« Er warf einen Blick in Richtung seiner Frau, die ihr Glas Orangensaft mit beiden Händen festhielt, während ihre Augen nervös durch den Raum schweiften. Giles, der sah, dass sie allein in ihrer Ecke stand, ging sofort mit einem Tablett Cheddar auf Antonia zu. So schlecht ist er gar nicht, dachte Anne, als sie beobachtete, wie Giles Antonia lautstark in eine reichlich einseitige Unterhaltung verwickelte.
Marcus stand so, dass seine Schulter gegen ihre Wolljacke rieb, und machte ihr ein Kompliment wegen ihres Kleides. Annes Gedanken schweiften ab, während sie ihm belanglos, aber höflich antwortete. Sie überlegte, was sie und Charles an diesem Wochenende unternehmen konnten, ob er wieder auf diese mysteriöse Art und Weise abtauchten würde oder ob sie ihn zu einigen gemeinsamen Stunden verlocken konnte. Vielleicht sollten sie nach Petersham fahren und ein Picknick am Fluss veranstalten, so wie sie es einst in Grantchester getan hatten. Vielleicht gelang es ihnen, etwas von ihrer alten zwanglosen, innigen Vertrautheit wiederzubeleben. Vielleicht sollte sie ihm sein Lieblingsessen zubereiten. Dabei wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, was sein Lieblingsessen war. Sie war, trotz aller Anstrengung, eine miserable Köchin. In diesem Moment war bei Anne erneut die Luft raus. Die Hochstimmung, die sich kurz bei ihr eingestellt hatte, als Charles ihre Hand genommen hatte, machte wieder der üblichen Trostlosigkeit Platz. Sie gab sich die Schuld, nicht in der Lage zu sein, sich seine Aufmerksamkeit dauerhaft zu sichern. Er war für sie viel zu charmant, klug, gut aussehend und war es immer gewesen. Sie kam sich neben diesem schillernden Brillanten wie ein glanzloser Kiesel vor. Sie war für Männer wie Marcus bestimmt: für Männer, die an ihren eigenen Enttäuschungen erstickten, für potentielle Versager, die alles einigermaßen Gute in ihrem Leben dem Zufall zuschrieben. Männer, die für ihr, Annes, Selbstwertgefühl keine Bedrohung waren. Männer, die man in ihrer Begrenztheit verstehen und kontrollieren konnte. Männer mit schmutzigen Hemdkrägen. Männer, die sie nicht liebte.
Anne trank einen großen Schluck Wein aus dem Glas, das ihr jemand in die Hand gedrückt hatte. Der Wein tat zusammen mit dem Gin, den sie bereits intus hatte, seine Wirkung, hüllte sie in einen Zustand wattiger Gelassenheit. Schließlich merkte sie, dass alles vor ihren Augen zu verschwimmen drohte, sich ihre Zunge pelzig und geschwollen anfühlte. Sie sah sich im Raum um, suchte nach Charles’ vertrauter Silhouette, wurde jedoch vom Lärm der kreischenden Paare, vom Klirren der Flaschen und Gläser, dem leuchtenden Grün ihres Kleides gegen den gemusterten weißen Teppich der Trenemans überwältigt. Sie hatte plötzlich Durst. Sie brauchte Wasser.
»Entschuldige mich«, sagte sie zu Marcus, der sie bedeutungsvoll ansah, so als suche er in ihren Zügen nach einer positiven Reaktion, wo es keinerlei Reaktion geben konnte. Sie kannte dieses Gefühl, die Grausamkeit unerwiderter Gefühle. Und es gab ihr einen Stich. Sie hatte plötzlich Mitleid mit ihm.. »Entschuldige mich. Ich brauche unbedingt ein Glas Wasser.«
Marcus nickte lahm, an Niederlagen gewöhnt, und wandte sich wortlos wieder Antonia zu.
Anne drängte sich zwischen den Gästen hindurch den Flur entlang zur Küche der Trenemans, stützte sich mit der flachen Hand an den Wänden ab, als sie schwankte. Die Luft um sie herum schien sich abwechselnd auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, den Abend auf eine surreale, traumartige Schattenwelt zu reduzieren. Sie hatte ganz offenbar mehr getrunken, als es ihr guttat. Davon abgesehen hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Solange Charles nicht zu Hause war, dachte sie nie an Essen.
Die Küche lag hinter dem Treppenaufgang, nach einer Biegung am Ende des Flurs. Die Tür war geschlossen. Dort, wo sie nicht bündig mit dem Holzrahmen abschloss, war allerdings ein schmaler Lichtstreifen sichtbar. Anne hörte dahinter gedämpftes Lachen
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