Scherbenherz - Roman
einzelnen Portionen waren als Vorrat für die bevorstehende Woche gedacht.
Sie sah erneut auf die Uhr. Sieben Uhr zehn. Sie seufzte. Kein Grund mehr, es länger hinauszuschieben. Sie musste sich umziehen.
Anne ging ins Schlafzimmer hinauf und setzte sich auf den rosafarbenen kleinen Samtsessel vor dem Toilettentisch. Sie begann systematisch ihr Haar zu bürsten und starrte dabei blicklos auf ihr Spiegelbild, bis sie flüchtig ihr Gesicht wahrnahm. Obwohl sie sich in letzter Zeit verlebt, ausgepowert und leer fühlte, konnte sie nicht umhin, sich einzugestehen, dass mit ihr noch immer Staat zu machen war. Sie hatte unabsichtlich Gewicht verloren, wodurch ihre hohen Wangenknochen noch prägnanter hervortraten, so dass ihr Gesicht insgesamt straffer wirkte. Ihre Züge waren gleichmäßig – mandelförmige Augen, die sich beim Lachen zu Schlitzen verengten, blassrosa, geschwungene, volle Lippen und eine glatte, hohe Stirn. Sie war unübersehbar eine attraktive Frau, wirkte schon auf den ersten Blick, musste sich nicht besonders hervortun, war eine angenehme Erscheinung. Wenn sie lächelte, strahlte sie noch immer eine Lebhaftigkeit aus, mit der sie andere in ihren Bann zog. Allerdings fiel Anne auf, dass ihre Augen mittlerweile von diesem Lächeln meist unberührt blieben. Sie schienen wie mit einer starren Lasur überzogen zu sein.
Ihr Leben kreiste fast ausschließlich um das alltägliche Einerlei. Und obwohl sich ein Teil von ihr nichts anderes als diese Hausfrauenexistenz gewünscht hatte, gehofft hatte, in ihr vor allem Sicherheit und Geborgenheit zu finden, hatte sie nicht im Traum daran gedacht, dieses Leben könne von Unbehagen und Spannungen geprägt sein. In ihrer Vorstellung von einer glücklichen Ehe wäre Charles seinem Beruf nachgegangen, allabendlich nach Hause zurückgekehrt, erfreut, sie zu sehen, und dankbar für die Mahlzeit, die sie auf den Tisch brachte, während sie stolz und voller Freude den Haushalt führte, ihr Nest für die geplanten Kinder bereitete. So allerdings hatte es sich nach Lage der Dinge nicht entwickelt. Anne war trotz Charles’ regelmäßigen Bemühungen noch immer nicht schwanger geworden. Und Charles schien den Zeugungsakt als eine nebenbei zu erledigende Aufgabe anzusehen, ein weiterer Punkt auf der Agenda, der abgehakt werden musste. Anne fühlte sich allein gelassen und gelangweilt. Keine Kinder zu bekommen erschien ihr wie ein schwerwiegendes Versagen ihrerseits, machte aus ihr eine Art Neutrum. Ihre Wertlosigkeit als Frau wurde nur noch deutlicher, als sie von lauter gebärfreudigen Frauen umzingelt war, die mit entmutigender Regelmäßigkeit Babys auf die Welt brachten. In den düstersten Augenblicken, in den Augenblicken, über die nachzudenken sie sich kaum gestattete, erlebte sie eine unendliche Trostlosigkeit.
Die beste Methode, damit fertigzuwerden, erschien Anne, diese Dinge zu ignorieren und zu negieren. Ändern konnte sie sie sowieso nicht mehr, und sie schämte sich jetzt, Friedas Warnung so selbstgerecht in den Wind geschlagen zu haben. Sie beschloss für sich, die schlimmsten Gedankengänge einfach nicht bis zum bitteren Ende zu denken. Stattdessen baute sie im Geiste stetig weiter an einem Damm gegen die anstürmende Flut ihres Unglücks. Sie tat so, als kämen den oberflächlichen Äußerlichkeiten, den von ihr so hübsch geglätteten Fassaden, eine tiefere Bedeutung zu. Sie umgab sich mit den üblichen Accessoires des Glücks und stellte ihr Dasein nicht infrage. Als beunruhigend empfand sie allein nur die Tatsache, dass auch andere ihr Leben nicht hinterfragten. Anne sah darin den Beweis, dass der äußere Schein genügte, dass er etwas, das gar nicht existierte, voll und ganz ersetzte. Sie stellte ferner fest, dass ihre mentale Disziplin auf ihre unmittelbare Umgebung abgefärbt hatte. Sie hielt das Haus mit geradezu leidenschaftlichem Eifer in Ordnung, badete zweimal täglich und verwendete große Sorgfalt auf ihr Make-up.
Anne begann Gesichtspuder aufzutragen, tupfte es mit einem dünnen, vom Alter mürben Schwämmchen auf. Es roch leicht nach Vanilleschoten und Mehl, was den Hauch eines Hoffnungsschimmers heraufbeschwor, den zarten Duft gespannter Erwartung. Sie sprühte etwas Parfüm der Sorte Yardley’s White Linen au f Handgelenke und Nacken, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte, da auf diese Weise der Duft angeblich länger vorhielt. Mit einem Pinsel trug sie beigen Lidschatten auf und betonte diesen mit einem dunkleren Braunton in den
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